Duisburg. Olga Kasian rettete sich mit Tochter und Enkelinnen vor den Raketen auf Kiew. Wie es der Familie in Duisburg geht, wie sie Weihnachten feiert.
Bis zum 24. Februar 2022 führten die pensionierte Krankenpflegerin Olga Kasian (67), ihre Tochter Evgenia (42) und die Enkelinnen Julia (22) und Diana (6) ein ruhiges Leben in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Doch der russische Angriffskrieg auf die Ukraine änderte das schlagartig. Heute lebt die Familie in einer Sozialwohnung in Duisburg-Hamborn. Die Einrichtung besteht aus Möbeln, die Nachbarn und Bekannte spendeten. Nur ein kleiner Weihnachtsbaum lässt darauf schließen, dass die Festtage vor der Tür stehen. Die Vier wollen sich nicht entmutigen lassen. Eine Woche vor Weihnachten erzählen sie ihre Geschichte. Das, was war. Und auch, was noch sein wird.
Flucht unter Beschuss: von Kiew nach Duisburg
Es ist der letzte Tag im Februar. Seit mehreren Tagen herrscht in der Ukraine Ausnahmezustand. Russland bombardiert in Kiew das Regierungsviertel mit Raketen, aber auch die Wohnbezirke. Die Menschen retten sich in die U-Bahn-Stationen und Keller. So auch Olga Kasian und ihre Familie. „Mitten in der Nacht habe ich das Pfeifen von Raketen direkt vor unseren Fenstern gehört“, erzählt die zweifache Großmutter. „Da habe ich mir die Kinder geschnappt und wir sind in den Keller gerannt.“
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Seit Tagen hatten die Frauen keine ruhige Nacht. Wachgehalten wurden sie von Alarmsirenen, Explosionen und von ihrer Angst. Der einzige Ausweg aus dieser Hölle: die Flucht. „Wir haben Bekannte in Duisburg, die wir schon sehr lange kennen“, erklärt Olga. „Die haben uns eingeladen, zu ihnen zu kommen.“
Plötzlich ging alles sehr schnell. „Um fünf Uhr morgens saßen wir noch im Keller“, erinnern sich die Frauen. Um sieben Uhr sollte ein Zug sie ins westukrainische Lwiw bringen. Olga erzählt von diesem traumatischen Morgen: „Ich hatte eine Stunde Zeit, um unsere Sachen zu packen. Wir haben nur das Nötigste mitgenommen. Wir sind mit dem Auto zum Bahnhof. Unter Beschuss. In dem Moment, in dem der Zug losfuhr, schlug eine Rakete in einen Strommast ein. Der brach hinter uns zusammen, während wir wegfuhren.“
Von Lwiw brachte ein Bus die Frauen nach Warschau. An der Grenze standen sie etwa zehn Stunden. Nicht so lange wie befürchtet. In Warschau machten sie eine kleine Pause. „Wir hatten ein sechsjähriges Kind dabei“, erklärt Olga. „Das war sehr anstrengend.“ Von Warschau ging es weiter mit dem Zug nach Berlin und Duisburg. Zwei Tage dauerte die Flucht.
In der Ukraine blieb der Ehemann der 42-jährigen Evgenia zurück, der in der ukrainischen Armee kämpft und momentan wegen einer Verwundung behandelt wird. Evgenia und die sechsjährige Diana möchten hier lieber noch nicht mit Journalisten sprechen. Julia kam erst zehn Tage später nach Deutschland. Ihre Reise führte die 22-Jährige über Lwiw und per Anhalter nach Leipzig und Duisburg. Ganze vier Tage war sie unterwegs.
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Angekommen und dankbar: „Wir haben hier alles, was wir brauchen“
In Duisburg angekommen, führte ihr Weg sie zunächst zu den Bekannten und von dort ins Auffanglager im Landschaftspark Nord. „Nach einiger Zeit haben wir zusammen mit zwei anderen Frauen diese Wohnung hier bekommen“, erzählt Olga. „Aber die sind ausgezogen.“ Jetzt wohnen sie zu viert in der geräumigen Sozialwohnung. „Die ersten Wochen waren wir damit beschäftigt, alle Verwaltungsangelegenheiten zu regeln“, berichtet die ehemalige Krankenschwester. „Zum Glück haben unsere Bekannten sich sofort darum gekümmert, Diana in der Schule anzumelden.“ Die Sechsjährige habe dort schon Anschluss gefunden. „Sie sagt, dass sie nicht mehr hier weg will. Ihre ganzen Freunde sind jetzt hier.“
Man müsse sich zunächst an die neue Situation, das neue Land gewöhnen. „Wir müssen die Regeln und Gesetze hier noch lernen“, erzählt Julia. Nichtsdestotrotz gefällt es der 22-Jährigen hier. „Es macht mir Spaß, die Sprache zu lernen“, erklärt sie. Olga und Evgenia tun sich mit den Sprachkursen etwas schwerer. Aber sie sind dankbar. „Wir haben hier alles, was wir brauchen“, sagt Olga. „Eine Wohnung, kostenlose Bildung und Ruhe vor den Bomben und dem Alarm. Wir schlafen ruhig. Das ist das Wichtigste.“
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Weihnachten – am 6. Januar
Die Einrichtung in ihrer Wohnung ist spartanisch. Aber ein kleiner Tannenbaum, geschmückt mit Lametta und Christbaumkugeln, hellt die Stimmung im Wohnzimmer auf. Erinnert daran, dass trotz Krieg in der Heimat bald Weihnachten ist. „Wir haben eine Familientradition“, erklärt Julia. „Ich verkleide mich als Nikolaus und dann machen wir einen Wettbewerb. Es wird getanzt, wir tragen Gedichte vor und singen.“
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Diese Traditionen möchte die Familie beibehalten. Auch Geschenke wird es geben. „Wir möchten Diana ein normales Fest ermöglichen.“ Am 24. Dezember, dem katholischen Weihnachten, wird die Familie gemeinsam mit Bekannten im Restaurant feiern. Das ukrainische Weihnachtsfest findet am 6. Januar statt.
Zukunft: „Ich werde Diana nicht in Gefahr bringen“
Was danach kommt, ist ungewiss. Solange der Krieg im Heimatland tobt, will die Familie auf jeden Fall in Deutschland bleiben. Julia ist sich sogar sicher, dass sie hier leben will. Die ausgebildete Medizintechnikerin holt gerade einen deutschen Schulabschluss nach. Im März sind die Prüfungen. Danach möchte sie in Düsseldorf Medizin studieren.
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Olga ist sich noch unsicher. Seit dem Tod ihrer zweiten Tochter vor einigen Jahren ist sie Dianas Vormund. „Ich vermisse die Ukraine sehr“, erklärt sie. „Die Wärme meines Zuhauses. Aber ich werde Diana nicht in Gefahr bringen.“ Trotz allem – Olga ist zuversichtlich, dass der Krieg bald gewonnen ist. „Ich glaube, im Frühling ist alles vorbei.“ Dann könnten sie das nächste Weihnachtsfest wieder in vertrauter Umgebung feiern. Die Familie hält sich wacker. „Wir haben schon so viel geweint“, findet Olga. „Wir können ohnehin nichts ändern. Wir vertrauen unserer Armee und unserer Regierung, dass sie diesen Krieg gewinnen.“
Es scheint, als wären die Vier gut in Deutschland angekommen. Aber ihre Heimat, die Ukraine, möchten sie trotzdem nicht aufgeben.
>> SPENDENAUFRUF: KINDERNOTHILFE HILFT UKRAINISCHEN KINDERN
- Seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine wurden über eine Million ukrainische Geflüchtete in Deutschland registriert. In Duisburg waren Ende Oktober 6182 Ukrainerinnen und Ukrainer im Einwohnermelderegister erfasst.
- Wer als Geflüchteter in Duisburg Hilfe benötigt oder Hilfe anbieten kann, kann auf duisburg.de nach „Hilfen Geflüchtete“ suchen und findet so ausführliche Informationen.
- WAZ und Kindernothilfe rufen wieder zu einer Weihnachtsspendenaktion auf. Unterstützen wollen wir die Flüchtlingsfamilien, die sich aus der Ukraine in die angrenzenden Länder Moldau und Rumänien retten konnten. Aber auch im ukrainischen Charkiw ist der Hilfsbedarf enorm, besonders bei den Kindern, die im Land geblieben sind.
- Hier können Sie Spenden: Empfänger: Kindernothilfe e.V., Stichwort: Ukrainehilfe, IBAN: DE4335 0601 9000 0031 0310, BIC: GENODED1DKD (Bank für Kirche und Diakonie)