Duisburg. Duisburger Schüler haben sechs der ersten Gastarbeiter aus der Türkei interviewt und das auf Video dokumentiert. Was sie herausgefunden haben.
60 Jahre Anwerbeabkommen mit der Türkei – dieses Jubiläum feierte die Stadt Duisburg im vergangenen Jahr. Mehr als 800.000 türkische Gastarbeiter kamen zwischen 1961 und dem Anwerbestopp 1973 nach Deutschland. Was zu Beginn als Übergangslösung gedacht war, entwickelte sich bekanntlich anders als erwartet: Viele Arbeiter der ersten Generation holten schon bald ihre Familien nach Deutschland und leben heute noch immer hier. Die Geschichten der ersten Gastarbeiter in Duisburg zu erkunden, war das Ziel des städtischen Pilotprojekts „Zeit.zeugt.Stadt“.
„Die erste Generation Gastarbeiter wird bald nicht mehr unter uns sein“, erklärt Projektleiterin Petra Müller. Aus diesem Grund findet sie es wichtig, die Erfahrungen dieser Menschen zu dokumentieren. „Duisburg ist erst durch Migration zu der Stadt geworden, die sie ist“, sagt Leyla Özmal, die das Projekt mit Müller organisiert hat. Dieser Aspekt komme in der Stadtgeschichte häufig zu kurz.
Pilotprojekt „Zeit.zeugt.Stadt“: Schüler sprechen mit türkischen Gastarbeitern
An der Umsetzung wirkten rund 20 Schülerinnen und Schüler der Herbert-Grillo-Gesamtschule in Marxloh mit. Ein ganzes Schuljahr haben die Jugendlichen daran gearbeitet, sich die richtige Interviewtechnik anzueignen und Fragen an die Zeitzeugen zu entwickeln. „Beim ersten Interview waren wir sehr aufgeregt“, berichtet Neuntklässler Furkan. Die Aufregung habe sich im Verlauf des etwa 90-minütigen Gesprächs aber zum Glück gelegt.
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Filmisch begleitet wurden die Interviews von der Duisburger Regisseurin Anna Irma Hilfrich. Sie hat die Schüler auch beim Schneiden der Videos unterstützt. Entstanden sind sechs Interviewfilme, die in Kürze dem Duisburger Stadtarchiv übergeben und dann auch veröffentlicht werden sollen.
Zeitzeugin kam 1970 zum Studieren nach Deutschland
Eine der Zeitzeuginnen, die in den Interviews zu Wort kommen, ist die Duisburgerin Türkan Yilmaz. Die Migrationsforscherin hat „Zeit.zeugt.Stadt“ zunächst wissenschaftlich begleitet, bevor sie selbst zum Gegenstand der Forschung wurde. „Ich habe bei der Arbeit an dem Projekt bemerkt, dass ich selbst auch Zeitzeugin bin“, sagt Yilmaz, die Anfang der 70er-Jahre nach Deutschland gekommen ist.
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Ihre Migrationsgeschichte unterscheidet sich von denen der meisten anderen Einwanderer: „Ich habe 1970 in der Türkei Abitur gemacht und wollte dann unbedingt studieren.“ Ihre Eltern wollten sie dabei unterstützen, doch in der Türkei war ein Studium damals kaum möglich: Das Land war von einer großen politischen Instabilität geprägt, hinzu kam eine schlechte Wirtschaftslage. So entschied sich Türkan Yilmaz, zum Studieren nach Deutschland auszuwandern.
Erst das zweite Studium machte Türkan Yilmaz glücklich
In der neuen Umgebung hatte sie dann mit einigen Startschwierigkeiten zu kämpfen: Das Elektrotechnik-Studium verlief nicht wie gewünscht, und auch im universitären Umfeld fühlte sich Türkan Yilmaz nicht wohl. „Ich war oft die einzige Frau in den Vorlesungen“, erzählt sie. „Ein Professor hat mich sogar mal gefragt, was ich hier überhaupt mache.“
Yilmaz verließ schließlich die Universität, engagierte sich fortan für andere Zugewanderte – mal als Dolmetscherin, mal als Leiterin von Integrationskursen. Das Engagement für ihre Mitmenschen war ihr immer sehr wichtig: „Damals gab es ja sonst kaum Integrationsarbeit.“ Aus diesem Engagement heraus entstand auch ihr Interesse für die Sozialwissenschaften und im Speziellen für die Migrationsforschung.
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1995 wagte sich Türkan Yilmaz dann ein zweites Mal an die Universität – dieses Mal mit Erfolg: Ihr Studium der Sozialwissenschaften schloss sie erfolgreich ab und promovierte im Alter von 59 Jahren sogar in diesem Fach. Dass sie ihre Lebensgeschichte nun im Rahmen des Projekts mit den Schülern der Grillo-Gesamtschule teilen durfte, macht sie sehr glücklich: „Es hat mir gutgetan, einen Blick auf die eigene Vergangenheit zu werfen.“
>>ZEITZEUGENPROJEKT: BEWUSSTE ENTSCHEIDUNG FÜR MARXLOH
• Das Projekt „Zeit.zeugt.Stadt“ wurde im vergangenen Jahr anlässlich des 60. Jahrestags des Anwerbeabkommens mit der Türkei ins Leben gerufen.
• Die Projektleiterinnen haben die Herbert-Grillo-Gesamtschule in Marxloh bewusst als Kooperationspartner ausgewählt: „Anders als zum Beispiel im Duisburger Süden sind die meisten Gastarbeiter in Marxloh bis heute geblieben“, erklärt Leyla Özmal.
• Einige Schülerinnen und Schüler konnten daher durch das Projekt etwas über ihre eigene Familiengeschichte erfahren.