Duisburg. Für die August-Thyssen-Hütte kamen Ende der 60er Jahre türkische Arbeiter nach Duisburg. Werkszeitungen dokumentieren die Probleme der Zeit.

In diesen Tagen wird der 60. Jahrestag des Anwerbeabkommens mit der Türkei zelebriert –allerdings nicht bei Thyssen in Duisburg: Die August-Thyssen-Hütte war beim Einsatz von sogenannten „Gastarbeitern“ ein Nachzügler: Erst Ende der 1960er Jahre wurden in größerem Umfang Arbeitskräfte aus der Türkei angeworben, sagt Andreas Zilt, der Leiter des Corporate Archives in Duisburg-Ruhrort.

Ursächlich war, dass das Unternehmen einen hohen Aufwand mit dem Einsatz von „Gastarbeitern“ verbunden sah und Hans-Günther Sohl als damaliger Vorstandsvorsitzender von Thyssen 1964 zwar schon eine Überlastung der Belegschaft spürte, jedoch auf anderen Wegen versuchte, Kapazitäten zu schaffen. „Durch die Werkserweiterungen war dann um 1970 der Punkt erreicht, dass zusätzliche Arbeitskräfte aus dem Ausland unumgänglich wurden“, sagt Andreas Zilt. Die Werkszeitungen legen Zeugnis von den Herausforderungen der Zeit ab.

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Gastarbeiter lernen nach Feierabend Deutsch

1970 arbeiten in Hamborn schon 500 türkische Mitarbeiter. Um sich am Rhein einzugewöhnen, müssen sie fern von Heimat und Familie nicht nur kochen lernen, sondern vor allem Deutsch, wie der Autor der Mitarbeiterzeitung „Unsere ATH“ feststellt. Ingenieur-Dolmetscher Nihat Kafkasli bezeichnet er als „guten Geist“ der Beschäftigten und Sprachmittler nach Feierabend. Auch die Gewerkschaften und Betriebsräte suchen demnach den Kontakt und pflegen die Kameradschaft.

Zum Tag der Arbeit am 1. Mai 1970 laufen türkische Mitarbeiter Seite an Seite mit den Gewerkschaftern durch Duisburg.
Zum Tag der Arbeit am 1. Mai 1970 laufen türkische Mitarbeiter Seite an Seite mit den Gewerkschaftern durch Duisburg. © Corporate Archives Duisburg

Mit Erfolg: Schon im Februar 1970 wird mit Ertugrul Tekgüllü erstmals ein türkischer Elektriker Mitglied des Betriebsrats der August-Thyssen-Hütte. Und zum Tag der Arbeit im Mai 1970 marschieren „überaus stark“ die im Werk Ruhrort beschäftigten Türken „hinter zwei Halbmond-Fahnen“ durch Duisburg, wie die Werkszeitung berichtet.

Wohnheim in Beeckerwerth wird 1971 eröffnet

Im Januar 1971 gibt es ein besonderes Weihnachtsgeschenk, wie die Zeitschrift „Unsere ATH“ vermeldet: 150 türkische und jugoslawische Gastarbeiter beziehen das neue Wohnheim an der Hoffschen Straße in Beeckerwerth. Der Fertigbau mit Vierbett-Zimmern ist nötig geworden, weil in das ursprüngliche Heim der Ruhrkohle AG koreanische Zechenarbeiter einziehen sollen.

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Überschwänglich werden die Gemeinschaftseinrichtungen gelobt sowie die noch anstehende Gestaltung der Außenanlagen, damit sich die Bewohner aus Anatolien und vom Bosporus „mit Recht hier bald heimisch fühlen; zu wünschen wäre es ihnen“. Einfach ist das allerdings nicht, konstatiert ein Autor Ende der 70er Jahre in der Zeitschrift Thyssenaktuell, weil „insbesondere viele Türken aus der mittelalterlichen Gemeinschaft ihres Dorfes plötzlich in eine moderne Industriegesellschaft gestellt sind“.

Das macht das Miteinander im Privaten nicht leicht. „Wenn eine türkische Familie im Haus mit mehreren Deutschen zusammenlebt, dann ist das sehr gut. Bei Halbe/Halbe ist es schon schlecht“, stellt Harald Czaja, der Leiter des Thyssen-Wohnheims in Beeckerwerth, damals fest. Die Situation der Türken unterscheide sich stark von der anderer Gastarbeiternationen in Sprache, Tradition und Religion. Während Portugiesen oder Italiener in ihre Heimatländer fahren, um Urlaub zu machen, würden die Türken heimreisen, um „endlich für einige Zeit ein menschenwürdiges Leben führen zu können“.

Ein Bild aus den 80er Jahren am Hochofen bei Thyssen in Duisburg.
Ein Bild aus den 80er Jahren am Hochofen bei Thyssen in Duisburg. © Corporate Archives

Türkische Thyssen-Mitarbeiter, die in der Kantine mit deutschen Kollegen essen gehen, bekommen sogar einschüchternde Briefe der „Grauen Wölfe“, berichtet Thyssenaktuell sorgenvoll. Auch den Schulbesuch oder Sprachkurse für Frauen würden manche Gastarbeiter aus Angst vor „sittenaufweichendem modernen Einfluss“ verhindern.

Vorbehalte und pauschale Ablehnung gibt es auf beiden Seiten, kommentiert Winfrid Heinen 1978, weil die einen Schweinefleisch essen und die anderen mit Knoblauch würzen. Dabei sei Toleranz von Nöten: Angebote von Awo und anderen Verbänden sollen helfen, mit Sportgruppen oder Kochkursen das „Hineinwachsen der Ausländer in die deutsche Gesellschaft zu erleichtern“. Der Ausländeranteil an der Gesamtbevölkerung beträgt damals zehn Prozent, mehr als die Hälfte davon Türken.

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Sie müssen um Akzeptanz bei der Thyssen-Belegschaft kämpfen. Im Großenbaumer Werk wird die Beförderung eines Gastarbeiters kritisch gesehen, weil er jetzt Vorgesetzter ist. Es wird am Ende eine Erfolgsgeschichte: „Der Mann konnte jedoch seine Qualifikation für diese Aufgabe beweisen und sich durchsetzen.“

Die Thyssen-Stahl Gruppe bemühte sich nach Angaben von Archivar Andreas Zilt „intensiv um die Integration der ausländischen Mitarbeiter“. Der Anteil ausländischer Jugendlicher an den Aus­zubildenden in der Thyssen-Gruppe ist von vier Prozent im Jahr 1980 auf 17 Prozent im Jahr 1990 gestiegen. Seit der zweiten Generation sind ausländische Vorarbeiter, Meister und In­genieure keine Seltenheit mehr.

>>TÜRKISCHE MITARBEITER BEI THYSSEN

  • Der Anteil der Ausländer an der Thys­sen-Belegschaft stieg stetig bis auf 13,4 Prozent in 1974, dem Jahr des Anwerbe­stopps.
  • Im September 1990 stellten ausländische Mitarbeiter 13,7 Prozent der Belegschaft der Inlandsgesellschaften, die stärkste Gruppe bildeten die türkischen Mitarbeiter mit 59 Prozent aller Aus­länder.
  • Ende 2020 lebten laut Landesamt IT.NRW im Ruhrgebiet 201.395 Personen mit türkischer Staatsangehörigkeit. 41,3 Prozent der in NRW lebenden Türkinnen und Türken (487.470 Personen) sind somit im Ruhrgebiet zuhause. Das geht aus einer Berechnung des RVR-Statistik-Teams hervor.
  • In Duisburg leben 33.830 Einwohnerinnen und Einwohner mit türkischer Staatsangehörigkeit. Die Statistik erfasst dabei nur Menschen mit ausschließlich türkischer Staatsbürgerschaft. Personen mit türkischem Migrationshintergrund, die aber über einen deutschen Pass verfügen, sind in den Daten nicht enthalten.