Duisburg. Laienhistorikerin Gülperi Kara hat Frauen porträtiert, die vor rund 50 Jahren aus der Türkei nach Duisburg kamen. Daraus entsteht nun ein Buch.
Sie sind gekommen, um zu bleiben: Tausende Familien aus dem Ausland erreichten in den 70er Jahren Duisburg – und die Stahlstadt wurde ihre Heimat. Gülperi Kara, die selbst als Kind aus der Türkei nach Deutschland kam, hat als „Stadtteilhistorikerin“ die Geschichte von sechs Frauen dokumentiert, die so stellvertretend sind für die der ersten Gastarbeitergenerationen. Die Erinnerungen der Frauen will Kara jetzt in einem Buch veröffentlichen.
In einem Wochenblatt hatte die Marxloherin gelesen, dass die Bürgerstiftung und die Bochumer GLS Treuhand-Bank noch Teilnehmer für ihr Projekt „Stadtteilhistoriker“ suchten. „Da dachte ich mir, ich könnte doch über die Frauen in meiner alevitischen Gemeinde schreiben. Ich war dort auch mal Frauenbeauftragte, daher liegen sie mir sehr am Herzen, auch, weil diese Generation allmählich verstirbt. Ich will die Erinnerung an sie wahren“, sagt Kara.
Sechs türkische Frauen kamen vor rund 50 Jahren nach Duisburg
Die Geschichten, die Kara aufschreibt, könnten auch die Geschichten vieler anderer Frauen in Duisburg, im Ruhrgebiet, in Deutschland sein. Auch zu ihrem eigenen Lebenswandel gibt es Parallelen: Sie kam 1974 als Achtjährige aus der Türkei nach Deutschland, lernte innerhalb weniger Wochen Deutsch und verlor ihr Herz an die neue Heimat.
Eine der porträtierten Frauen ist Ağgül Kaya, die mit ihrem Mann Mehmet und ihrem drei Monate alten Sohn vor genau 50 Jahren nach Duisburg ging – als eine der ersten türkischen Familien überhaupt. Da war sie selbst fast noch ein Kind, gerade mal 16 Jahre alt. Mehmet arbeitete bei Thyssen. Die ersten drei Monate lebte die Familie bei Bekannten, dann in einer Zechenwohnung in Bruckhausen. „Da kullerten vor Rührung die Tränen, weil sie von den Nachbarn mit offenen Armen empfangen wurden. Die haben sogar geholfen, das Kinderzimmer herzurichten“, schildert Historikerin Kara.
Dennoch wich die Euphorie bald der Resignation, denn die beengten Wohnverhältnisse in den Duisburger Arbeitersiedlungen entsprachen nicht den großzügigen Häusern in den Dörfern Ostanatoliens. Die unvertraute Sprache, die Trennung von der Familie, die neuen kulturellen und sozialen Regeln machten es Ağgül Kaya nicht leicht, sich in dem für sie fremden Almanya (der türkische Begriff für Deutschland) einzuleben.
Längst ist Duisburg zur neuen Heimat von Ağgül Kaya geworden
Bald fing sie an, Nähkurse zu geben, baute Kontakt zur evangelischen Gemeinde auf. „Da kam sie auf den Geschmack, sich in Vereinen zu engagieren“, sagt Kara. Später half Ağgül Kaya bei der Awo in der Kinderbetreuung aus, bot Kochkurse an und ist seit der Gründung 1994 aktives Mitglied der alevitischen Gemeinde in Marxloh.
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Ağgül Kaya bekam noch drei weitere Kinder, einen Sohn und zwei Töchter. Mit ihrer alten Heimat verbindet sie kaum noch etwas – lediglich ihre Eltern lägen dort begraben, erläutert Autorin Kara. „Duisburg ist der Mittelpunkt ihres Lebens, hier leben ihre Kinder, ihre sechs Enkel, ihre Freunde. Für viele ist sie zur Ersatzmutter geworden.“ Deswegen suchte Kaya, wenn sie umzog, ihre neue Bleibe auch stets in der direkten Umgebung. Seit 14 Jahren lebt die heute 66-Jährige in Hamborn – allein, denn ihr Mann starb vor 25 Jahren.
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Zusammen mit den anderen Damen der alevitischen Gemeinde will Gülperi Kara ein Kochbuch mit traditionellen Rezepten aus der „alten“ Heimat veröffentlichen. Darin sollen dann auch die von ihr dokumentierten, sehr persönlichen Geschichten der Frauen aus den ersten Gastarbeitergenerationen enthalten sein.
>> WOHN- UND LEBENSVERHÄLTNISSE AUSLÄNDISCHER ARBEITER WAREN PREKÄR
• Die ersten Gastarbeiter kamen 1955 aus Italien nach Deutschland. Zwischen 1960 und 1968 wurden weitere Abkommen mit einigen europäischen und auch nordafrikanischen Ländern vereinbart. Besonders im Steinkohlebergbau herrschte ein großer Bedarf an Bergleuten, der kaum zu befriedigen war.
• Zwischenzeitlich stammte jeder zweite Arbeiter, der in Nordrhein-Westfalen in der Eisen- und Stahlindustrie, im Bergbau und im Baugewerbe beschäftigt war, nicht aus Deutschland.
• Die Wohn- und Lebensverhältnisse der ausländischen Arbeitnehmer waren prekär. Zwei Drittel der Gastarbeiter lebten 1962 in primitiven Gemeinschaftsunterkünften, sozial isoliert und von ihren Familien getrennt.