Duisburg. . Vier Betroffene der Anonymen Alkoholiker in Duisburg berichten von ihrer Sucht – und wie sie einen Weg aus der Krise gefunden haben.

Zuletzt kippte Wolfgang anderthalb Flaschen Schnaps und einen Kasten Bier am Tag in sich hinein. „Das war der Höhepunkt meiner Saufzeit“, sagt der heute 70-Jährige. Mittlerweile ist er seit über 30 Jahren trocken. Dass er das geschafft hat, verdankt er den Anonymen Alkoholikern (AA), die sich regelmäßig treffen, um über ihre Sucht zu sprechen und sich gegenseitig zu unterstützen. Wir durften an einem Offenen Treffen der Gruppe teilnehmen. So erzählt jeder der Teilnehmer seine Geschichte. Und wie er für sich den Weg aus der Krise gefunden hat.

„Ich bin Klaus und Alkoholiker“

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Mit 15 fing Klaus mit dem Saufen an. „Schon als Kind habe ich unter Depressionen gelitten“, sagt er. Als Jugendlicher merkte er, dass Alkohol „eine wohltuende Medizin“ war, sich seine trüben Gedanken aufhellten. „Bereits mit Ende 20 hatte ich einen üblen Absturz und war ein seelisches Wrack.“ Nach ersten Therapien wurde Klaus Vater.

„Für meinen Sohn habe ich es zehn Jahre lang geschafft, nicht zu trinken.“ In Gedanken aber war er stets bei seiner „Medizin“. Eine neue Frau trat in sein Leben – und damit kehrte die Sucht zurück. „Sie war selbst alkoholabhängig, da wurde ich auch wieder rückfällig.“ Klaus wurde zum Spiegeltrinker, musste stets einen gewissen Pegel erreichen, um überhaupt den Alltag bewältigt zu bekommen. Er stürzte erneut ab und begann eine zweite Langzeittherapie.

Jeden Tag findet in Duisburg ein Treffen der Anonymen Alkoholiker statt.
Jeden Tag findet in Duisburg ein Treffen der Anonymen Alkoholiker statt. © HEROLD, Volker

Vor fünf Jahren stieß Klaus dann über eine Freundin zur Gruppe der Anonymen Alkoholiker in Duisburg. Er fühlte sich gleich verstanden und aufgehoben. „Hier habe ich das Gefühl: Du wirst gebraucht, das gibt mir Kraft und macht mich stark.“ Doch sie Sucht ist ein ständiger Kampf mit sich selbst. Und irgendwann gewann der Alkohol wieder die Oberhand. „Im vergangenen Jahr hatte ich einen bösen Absturz“, gibt Klaus zu. Dabei war er zuvor viele Jahre trocken gewesen. „Ich stellte das Handy ab und verkroch mich, um zu saufen.“ Die anderen AA-Mitglieder machten sich Sorgen, standen täglich vor Klaus’ Tür und ließen ihn in dieser Zeit nicht alleine. „Da habe ich gemerkt, dass ich all das zurückbekomme, was ich gegeben habe.“ Heute nimmt er wieder fast jeden Tag an Meetings teil. „Die Treffen sind heute meine Medizin.“

„Ich bin Franziska und Alkoholikerin“

„Wenn ich trank, bin ich immer aggressiv geworden“, sagt Franziska. Sie ist bereits seit 1983 trocken. Mit ihrem damaligen Mann trank sie häufig und intensiv. Zunächst dachte sie aber, das nur er ein Trink-Problem habe. Doch mit dem Alkohol löschte auch sie alles, was an unbearbeiteten Gefühlen in ihr brannte. „Mein Lachen war abhanden gekommen“, erinnert sie sich. Für ihren Mann wollte sie eines Tages ein AA-Treffen finden und rief dafür bei der Telefonseelsorge an. „Die sagten mir, dass es auch Gruppen für Angehörige gibt.“ Also setzte sie sich in ein Meeting und hörte zwei Stunden zu. „Danach war mir klar, dass auch ich Alkoholikerin bin.“

Sie ging weiter zu den Treffen. „Dort lernte ich, dass es sich nicht lohnt, mit jemandem in den Ring zu steigen, der dich ohnehin immer k.o. haut.“ Dass sie heute nicht mehr trinkt, nicht mehr trinken muss, sei „ein Geschenk“. Denn einen freien Willen haben Alkoholiker nicht mehr. Auch wenn sie nun 35 Jahre trocken ist, einen Drang zu trinken, um den inneren Druck zu mindern, sich Erleichterung zu verschaffen, verspürt Franziska in gewissen Situationen immer noch. „Wichtig ist, dann nicht nachzugeben, sondern weiterzudenken. Dass der Alkohol einen langfristig tötet.“ Daher auch die Regel, vor jedem Redebeitrag die Worte ‘ Ich bin... und ich bin Alkoholiker’ zu sagen. „Mit dieser Wiederholung machen wir uns bewusst, wie tückisch die Sucht ist.“

„Ich bin Wolfgang und Alkoholiker“

Vom 33. bis zum 35. Lebensjahr hat Wolfgang „durchgesoffen“. Der heute 70-Jährige trank bereits morgens Bier zum Aufwachen und musste sogar nachts einen Schnaps nachkippen, um schlafen zu können. Auf der Arbeit trank er große Mengen Hochprozentigen – heimlich und teilweise von den Kollegen gedeckt. Er erinnert sich an eine Kegeltour in Paris mit Freunden und seiner damaligen Frau: „Dort wollte ich einen Tag mal nichts trinken“, sagt er. „Dann hatte ich solche Entzugserscheinungen, dass es mir hundeelend ging.“ Als seine Frau mit den Freunden verschwunden war, schleppte er sich an die Hotelbar und kippte Schnaps hinunter. „Erst dann ging es mir besser.“ Da wurde ihm klar, dass er ein Problem hatte. Und ebenso seiner Frau. Ihr musste Wolfgang versprechen, ein AA-Treffen aufzusuchen.

Wieder zuhause fuhr er zu den Anonymen Alkoholikern. „Dort erzählte ein anderer mein Leben nach.“ Er fühlte sich verstanden und entschied, in stationäre Therapie zu gehen. Dort arbeitete er viel auf, vor allem Verdrängtes aus der Kindheit. Schicksalsschläge folgten, der Drank zu trinken war jedes Mal wieder da. Etwa nach der Scheidung von seiner Frau oder nach der Krebsdiagnose vor 22 Jahren. Aber statt zur Flasche zu greifen, ging er täglich ins Meeting. „Das war wie eine Pille für mich.“ Auch nach so vielen Jahren Abstinenz „ist es immer noch eine Erleichterung für mich, auf AA-Treffen zu sprechen“. Heute bestimmt der Alkohol nicht mehr sein Leben. Wolfgang ist zum dritten Mal verheiratet – glücklich seit 21 Jahren.

„Ich bin Uwe und Alkoholiker“

Auch Uwe erzählt seine Geschichte: „Seit ich krabbeln konnte, war ich auf mich allein gestellt“, sagt Uwe, der heute Ende 30 ist. „Zuhause waren wir vier Kinder, meine Eltern arbeiteten selbstständig und haben sich nicht um uns gekümmert.“ Regeln gab es nicht. Mit 14 habe er sich weggeschossen, mit Drogen und Alkohol. „Meine älteren Brüder sind irgendwann abgehauen und meine Eltern fingen an, alle Zimmer in der Wohnung abzuschließen, außer das Bad und mein Zimmer.“

Uwe schüttete den Alkohol in sich hinein und sah erst im späteren Berufsleben bei Arbeitskollegen was es bedeutet, ein normales Familienleben zu haben. „Vor zehn Jahren fing ich die erste ambulante Entziehungskur an.“ Schwere Rückfälle folgten. Irgendwann kapitulierte der Körper – er ließ sich stationär einweisen. „Ich brauchte nochmal sechs Jahre, um wieder in geregelte Bahnen zu kommen.“ Seit nunmehr acht Jahren besucht Uwe die AA-Treffen. „Sie sind meine Ersatzfamilie geworden.“ Die Geschichten der anderen zu hören, seine eigene zu erzählen und dabei zu reflektieren, habe ihm gut getan. „Ich erkenne meine Macken und weiß besser, an was ich arbeiten muss.“ Seit neun Monaten ist er nun trocken, bald wird er eine stationäre, fünfmonatige Therapie beginnen. „Da freue ich mich drauf“, sagt er.

Hilfesuchende werden immer jünger

Für Franziska, Klaus, Uwe, Wolfgang und seine Mitstreiter ist es wichtig, sich der Öffentlichkeit zu öffnen. Nur so können sie anderen Betroffenen Lösungen aufzeigen: Es gibt einen Weg aus der Sucht. „Wichtig ist nur, dass die Bereitschaft da ist, etwas an seinem Leben ändern zu wollen“, erklärt Wolfgang. „Man muss Problematisches in seinem Leben aufarbeiten.“

Insgesamt 13 Gruppen der Anonymen Alkoholiker gibt es in Duisburg – Tendenz leicht rückläufig. Wobei das nicht bedeutet, dass es weniger alkoholabhängige Menschen gibt. Im Gegenteil: Alkohol ist und bleibt Volkskrankheit. Etwa 1,3 Mio. Menschen gelten bundesweit als alkoholabhängig. Nur etwa 10 Prozent unterziehen sich einer Therapie. Jedes Jahr sterben in Deutschland rund 20 000 Menschen an den direkten und indirekten Folgen ihres Alkoholmissbrauchs.

Was Wolfgang beobachtet hat: „Die Leute, die sich an uns wenden werden jünger.“ Viele, die in die Treffen kommen, sind um die 30. Das habe auch mit dem steigenden Druck in der sich wandelnden Arbeitswelt zu tun.

>> Selbsttest im Internet

- Die AA-Gruppen erhalten sich durch eigene Spenden: Der Hut geht herum und jeder gibt, was er möchte. Davon werden Raummieten oder Flyer bezahlt.

- Zahlreiche Selbsthilfegruppen befassen sich mit dem Thema Alkoholsucht, auch für Angehörige. Kontakt: aa-duisburg-muelheim@anonyme-alkoholiker.de, www.anonyme-alkoholiker.de

- Ab wann spricht man von Abhängigkeit? Etwa wenn ein starkes Verlangen, Alkohol zu trinken auftritt oder die Fähigkeit zu kontrollieren, wann und wieviel konsumiert wird, vermindert ist. Einen Selbsttest finden Betroffene auf www.kenn-dein-limit.de/selbst-tests/alkohol-selbst-test/