Duisburg. Ein Reporter nahm an einem offenen Meeting der Anonymen Alkoholiker in Duisburg teil und war von der Offenheit der Selbsthilfegruppe beeindruckt.

„Ich bin Daniel und ich bin Alkoholiker.“ – Fast wäre mir der Satz herausgerutscht, als ich beim „offenen Meeting“ der Anonymen Alkoholiker an der Junkernstraße 4 in Duisburg Mitte das erste Mal das Wort ergreife. Jeder Redebeitrag der acht Teilnehmer beginnt mit dem eigenen Namen und diesen Worten. Ich stoppe nach „Daniel“ und bedanke mich stattdessen, bei der Sitzung dabei sein zu dürfen und schon im Vorfeld für die Offenheit der Gruppe. Wie offen es zugehen wird, davon habe ich am Anfang des zweistündigen Meetings noch keine Vorstellung.

Die Alkoholiker berichten geradeheraus und entwaffnend ehrlich von ihrer Lebensgeschichte, wie sie dem Alkohol verfallen sind und wie sie den Weg zur Selbsthilfegruppe gefunden haben. Das Thema: Der erste Schritt.

Die Anonymen Alkoholiker haben ein Zwölf-Punkte-Programm, das helfen soll den Weg weg von Spirituosen, Bier und Wein zu finden – trocken zu werden. Der erste Schritt: „Wir gaben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind – und unser Leben nicht mehr meistern können.“ Die Teilnehmer sind sich einig, der erste Teil des Satzes war weitaus leichter zu akzeptieren als der zweite. „Ich mein Leben nicht meistern? So ein Quatsch. Ich hatte Familie und im Job lief es auch“, erinnert sich Gruppenmitglied Martina an ihre Probleme, ehrlich zu sich selbst zu sein. „Ein Leben nur mit Alkohol leben zu können, heißt nicht, es zu meistern“, gestand sie sich erst später ein.

Höhere Macht

Die Anonymen Alkoholiker glauben an eine höhere Macht, sprechen von Gott, sind jedoch nicht einem Glauben verschrieben. Beim Treffen sitzen Gläubige ebenso wie Ungläubige. „Wir sind konfessionslos, glauben lediglich an etwas, das größer ist als wir selbst“, erklärt Gruppenleiter Wolfgang, „das uns die geistige Gesundheit wiedergeben kann.“ Egal ob Christen, Muslime, Buddhisten oder Heiden – alle sind willkommen. Eine gewisse Demut sei jedoch für jeden ein ganz wichtiger Faktor auf dem Weg in die Nüchternheit. Zudem sei es eine große Hilfe, die Geschichten der anderen zu hören. Zu merken, dass man nicht allein mit seinen Problemen ist. Und vor allem: „Aufhören eine Maske zu tragen – jemanden darzustellen, der man nicht ist“, sind sich alle einig.

Verantwortung

Bevor es um das Thema der Sitzung geht, berichtet der Reihe nach jeder aus dem Alltag. Von der kranken Mutter und eigenen Gebrechen. Aber auch von schönen Erlebnissen, die mit Alkohol nicht möglich wären. „Ich bin Walter und ich bin Alkoholiker. Ich übernehme wieder Verantwortung für andere Menschen“, berichtet er. Trotzdem sei er oft noch unruhig vor Meetings. Am Ende ginge er „mit innerlichem Frieden wieder heraus“.

Ich bin an der Reihe, bedanke mich und höre von da an nur noch zu.

Vier Schicksale aus der Selbsthilfegruppe 

„Ich bin Walter und ich bin Alkoholiker.“ Der hochaufgeschossene Mann beugt sich beim Reden nach vorn, verleiht seinen Worten gestenreich Ausdruck. Walter war früher der Typ „Brust raus, hier komme ich“. „Alles war immer super und toll – alles leere Phrasen. Meinen Dienst vor drei verschiedenen Botschaften hab ich mehr schlecht als recht gemacht.“

Sein Umfeld deckte ihn stets. Auch später als Feuerwehrmann. „Ich durfte kein Alkoholiker sein. Dass wäre auf alle zurückgefallen.“ Als ihn seine Frau verließ, feierte er Abschied vom Alkohol, ein letzter Vollrausch. Danach war er bereit für die Selbsthilfegruppe und gab dort zu: „Ich habe ohne Alkohol Angst vor Verantwortung.“

Im ersten Jahr war Walter fast täglich in den Gruppen und fand Halt. „Ich habe immer nach etwas von draußen gesucht, das ich nur in mir selber finden konnte“, sagt er nachdenklich. „Ich wurde auf den Walter zusammengestutzt, der ich wirklich bin.“

Cognac war immer dabei

„Ich bin Karin und ich bin Alkoholikerin. Mit 29 Jahren bin ich zu den Anonymen Alkoholikern gekommen. Seit 39 Jahren bin ich trocken.“ Dass sie gesoffen habe, sei in der Familie immer bekannt gewesen. „Aber Alkoholikerin? „Das war verpönt und natürlich nicht so“, erinnert sich die Frau freimütig.

Alkoholismus war in Karins Familie nie ein Thema. Aber einmal mit dem Trinken angefangen, konnte sie nie aufhören, blickt sie zurück. „Ich habe jung geheiratet. Mein erstes Kind habe ich verloren und ein Jahr darauf meinen Vater, der immer Halt für mich war.“ Das Loch, in das sie fiel, ertrank sie in Alkohol. „Eine Freundin kam mit Cognac, die Flasche habe ich sieben Jahre lang nicht mehr aus der Hand gelegt.“ Sie flüchtete sich vor Alpträumen ins Delirium.

Erst als sie wieder schwanger wurde, unterbrach sie das Trinken. Nach der Stillphase der Rückfall. „Für ein Jahr habe ich extrem getrunken, bis ich die Erkenntnis hatte, dass ich so das Kind töte.“ Karin suchte Hilfe bei den Anonymen Alkoholikern. „Dort hatte ich eine Förderin, die mir half. Sie gab mir Aufgaben, um durch den Tag zu kommen. Anfangs fiel es mir schwer, in 24-Stunden-Schritten zu denken.“ Heute sagt sie: „Die zwölf Schritte sind Lebensprogramm geworden, man kann sie auf den Alltag übertragen.“ Karin schafft das seit 39 Jahren erfolgreich.

Gewalt im Elternhaus

„Ich bin Pascal und ich bin Alkoholiker und drogenabhängig.“ Der 32-Jährigewirkt sehr ruhig. Ein Mensch, der eher in sich gekehrt ist. Er meldet sich erst spät zu Wort. „Ich konnte nie über mich oder meine Gefühle reden“, sagt er, „hier geht das, weil man mich versteht.“

Pascal spricht über seine Kindheit, den Vater nennt er nur „Erzeuger“. „Es gab Gewalt und Streit zu Hause. Bei dem Elternhaus war vorprogrammiert, was passiert ist.“ Mit 14 Jahren war Alkohol im Fußballverein nach dem Spiel in der Kabine normal und auch der Joint passte zum Skateboard und den weiten Hosen. „Es gab keine Konsequenzen in der Schule oder im Umfeld“, sagt er. „Ich war der Größte in meiner eigenen Welt.“

Später ging er zur Bundeswehr, hatte Einsätze im Kosovo und in Afghanistan. Die Dienstzeit endete mit ständigen Alkoholexzessen. Irgendwann trank er wegen Entzugserscheinungen – Abhängigkeit.

Ende 2011 dann der Tiefpunkt. „Ich wollte mir das Leben nehmen.“ Nach zwei Tagen auf der Intensivstation folgte Anfang 2012 eine Langzeittherapie, ohne Erfolg. Nach Rückfällen entschied sich Pascal 2013, alles offen zu legen. „Auch den sexuellen Missbrauch durch meinen Erzeuger, den ich immer verheimlichte.“

Pascal wechselte seinen Wohnort, wollte Abstand gewinnen. Drei Mal die Woche ist er jetzt bei den Gruppen. Er ist überzeugt: „Die Treffen sind zu 50 Prozent der Grund, dass ich trocken bin.“

Lebenslanger Kampf

„Ich bin Rolf und ich bin Alkoholiker.“ Rolf wirkt wie ein lustiger Mann. Seine Geschichte kann er heute an einigen Stellen mit einem Augenzwinkern erzählen, jedoch weiß er: „Man könnte sich ja fragen, wieso wir den Anfangssatz immer wiederholen… Sind die schusselig? Aber ich habe gelernt, dass ich es jedes Mal vor allem für mich selbst sagen.“ Alkoholismus ist eine Krankheit und Alkoholiker bleibt man ein Leben lang.

Anfangs wollte Rolf das nicht wahr haben. Beim Aufenthalt in der Suchtklinik hätte er sich damals gefragt, was er dort soll. „Als ich abends im Ess-Saal allein mit meinem Tablett stand, haben mich Leute zum Tisch gerufen. Sie sagten, ich würde zu ihnen gehören. Es waren die Alkis.“ Seine Krankheit stand im augenscheinlich ins Gesicht geschrieben.

Rolf meinte dagegen, es liege am Stress. Bei den Meetings erkannte er sich jedoch in den Geschichten der anderen wieder. „Ich musste mich zum ersten Mal nicht verstellen.“ Anderthalb Jahre war er danach trocken, bevor er glaubte, den Alkoholkonsum kontrollieren zu können. „Ich teilte eine Flasche Schnaps für eine Woche ein. Leider war es schnell so, dass meine Woche nach zwei Stunden um war.“ Alkoholiker bleibt man ein Leben lang – heute weiß Rolf das. Er ist trocken.