Essen. . Wenn Menschen immer mehr und schon morgens Alkohol trinken, sind sie dabei, die Kontrolle zu verlieren. Suchmediziner Prof. Norbert Scherbaum erklärt, wie jemand vom Alkoholmissbrauch in eine Abhängigkeit gerät. Experten diagnostizieren eine Abhängigkeit anhand von sechs Kriterien.
Ab und zu mit einem Glas Sekt anzustoßen, das gehört nicht nur bei vielen Karnevalspartys zum guten Ton. Doch wenn Menschen immer mehr und schon morgens trinken, sind sie dabei, die Kontrolle zu verlieren. Prof. Norbert Scherbaum ist Direktor der Klinik für abhängiges Verhalten und Suchtmedizin im Klinikum Essen des Landschaftsverbands Rheinland (LVR). Er weiß, wie jemand Schritt für Schritt vom Alkoholmissbrauch in eine Abhängigkeit gerät – und was sich dagegen tun lässt.
Wann wird man abhängig ?
„Im Lauf der Zeit kann sich das Trinkverhalten verselbstständigen“, sagt Prof. Norbert Scherbaum und nennt ein Beispiel: „Ein unsicherer Mensch, der merkt, dass er sich nach einem Glas Sekt in Gesellschaft lockerer bewegt, trinkt vielleicht irgendwann regelmäßig zu Hause.“ Das Suchtmittel manipuliere das Hirn auf Dauer derart, dass man die Dosis steigere und seine Umwelt anders wahrnehme: „Süchtige fühlen sich von der Flaschenauswahl im Supermarkt viel mehr angelockt als andere Menschen.“
Was sind Warnsignale, an denen die Sucht erkennbar wird?
Es gibt sechs Kriterien, nach denen die Alkoholabhängigkeit diagnostiziert wird. Zunächst Zeichen der körperlichen Abhängigkeit – sprich, der Körper braucht immer mehr Alkohol, weil er sich daran gewöhnt hat. Bleibt der „Nachschub“ aus, treten Entzugserscheinungen wie Herzrasen, Übelkeit oder Schweißausbrüche auf. „Wenn jemand weiter trinkt, obwohl er die Nachteile seines Tuns bemerkt – zum Beispiel weil es deshalb Probleme in der Partnerschaft gibt“, beschreibt Psychiater Scherbaum ein drittes Kriterium. Anzeichen dafür, dass man nicht mehr kontrolliert mit Alkohol umgeht, sind auch der Zeitpunkt und die Umstände des Alkoholkonsums. Das heißt etwa: Man trinkt schon morgens vor der Arbeit. Ein wichtiges Kennzeichen der psychischen Abhängigkeit ist das heftige Verlangen nach Alkohol, z.B. weil man glaubt, Situationen nicht anders meistern zu können. Schließlich wird der regelmäßige Alkoholkonsum Teil des Lebensstils.
Wie kann ich mich selbst oder andere rechtzeitig bremsen?
Sucht entwickelt sich meist schleichend – alle Warnsignale können bereits in Vorstufen beobachtet werden oder man kann sie sich bewusst machen. Dann sollte das Thema angesprochen werden, rät Scherbaum. „Am besten nicht moralisierend nach dem Motto ,Du sollst nicht so viel trinken‘, sondern als Frage formuliert.“ Das könnte sich so anhören: „Mir ist aufgefallen, dass du oft eine Fahne hast. Kann es sein, dass dir dein Alkoholkonsum entgleitet?“ Reagiert der Angesprochene dankbar darauf, dass man sich um ihn sorgt, kann man mit ihm auch über mögliche Gründe für das übermäßige Trinken sprechen und Hilfe bei einer Suchtberatungsstelle oder psychiatrischen Klinik suchen. Will derjenige nicht über sein Problem reden, kann man ihm die Adressen der Institutionen (siehe Kasten) geben.
Was können Eltern tun, die sich Sorgen um den Alkoholkonsum ihrer Kinder machen?
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„Mutter und Vater haben eine Vorbildfunktion – Kinder orientieren sich primär auch in ihrem Trinkverhalten an ihnen. Eltern müssen außerdem sachliche Informationen über Abhängigkeit und ihre Folgen, etwa die Gefahr von Leberschäden, geben“, sagt Psychiater Norbert Scherbaum. Wichtig sei es, Regeln innerhalb der eigenen vier Wände aufzustellen, also etwa das Trinken von Hochprozentigem zu Hause zu verbieten.
Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte fordert zudem ein Werbeverbot für Alkohol: „Die Verknüpfung von positivem Lebensgefühl mit Alkohol, wie sie die Werbung herstellt, verführt gerade Minderjährige zum Trinken“, sagt Dr. Matthias Brockstedt, Suchtbeauftragter des Berufsverbandes.
Verbandspräsident Dr. Wolfram Hartmann erklärt: „Kinder und Jugendliche aus sozial schwachen Familien greifen früher und häufiger zur Flasche.“ In diesen Familien schafften es Eltern häufig nicht, maßvoll mit Alkohol umzugehen. Die Werbung für Alkohol sei nicht dazu angetan, solche Familien in ihren Ressourcen zu stärken.
Wie können Wege aus der Sucht aussehen?
„Sucht ist eine Krankheit – es hilft nicht, mit dem Finger auf Betroffene zu zeigen und ihnen die Schuld zu geben“, sagt Norbert Scherbaum. Eine aufeinander aufbauende, sogenannte therapeutische Kette dient der Behandlung.
Auf der ersten Stufe steht die Motivation durch Suchtberatungsstellen oder durch Hausärzte, denen bei einem Patienten zum Beispiel eine Leberstörung durch Alkohol auffällt. Es geht darum, ein Bewusstsein für die Risiken des abhängigen Alkoholkonsums zu schaffen und über Hilfsmöglichkeiten zu informieren. Stufe zwei ist eine qualifizierte ambulante oder stationäre Entzugsbehandlung. „Dazu gehört auch eine psychiatrische Diagnostik, bei der festgestellt wird, ob der Abhängige eine begleitende Depression oder eine andere Erkrankung hat, die es ihm schwer macht, abstinent zu bleiben“, erklärt Scherbaum. Medikamente können helfen, Entzugsbeschwerden und das Verlangen nach Alkohol zu dämpfen. Eine anschließende Rehabilitationsbehandlung oder eine ambulante Weiterbehandlung sollen den Aufbau eines abstinenten Lebensstils unterstützen.