Essen/Duisburg. . Der Leitende Notzarzt am Einsatztag und ein Sicherheitsforscher erheben neue Vorwürfe gegen die Loveparade-Planer. In einer TV-Dokumentation beklagt der Arzt „unfassbare Schlamperei“. Duisburgs OB Adolf Sauerland versucht dagegen, wieder zu beschwichtigen.

Nur wenige Tage vor der großen Trauerfeier zum Jahresgedächtnis der Loveparade-Katastrophe am Sonntag werden neue Vorwürfe gegen Veranstalter und Stadtverwaltung laut. In einer Dokumentation von „Spiegel TV“, die der Sender Vox am Samstag um 22.15 Uhr ausstrahlt, berichtet der Leitende Notarzt von unfassbarer Schlamperei. Er sei trotz mehrfacher Anfragen nie zu den Planungsgesprächen im Vorfeld der Loveparade eingeladen worden, sagt Laurentius Kolodziej.

Keine Funkgeräte, kein Handy-Netz

In dem Film, der der WAZ-Mediengruppe bereits vorliegt, schildert der Arzt die schlechte Organisation: „Als ich morgens ankam, wurde mir mitgeteilt, dass ich keinen Piepser und kein Funkgerät zur Verfügung gestellt bekomme.“ Als es dann ernst wurde, war das Handy-Netz längst zusammengebrochen.

21 Tote, mehr als 500 zum Teil schwer Verletzte – das ist die Bilanz des Schreckens. Und das Leiden hat noch längst kein Ende, wie die „Spiegel“-Doku bewegend verdeutlicht. Filmemacher Timo Gramer schießen die Tränen in die Augen, wenn er von dem Vater erzählt, der immer noch nicht begreifen kann, dass sein 21-jähriger Sohn nicht mehr lebt. „Plötzlich fehlt ein Viertel der Familie“, sagt er.

Im Interview räumt Veranstalter Rainer Schaller offen ein, dass es sich bei dem, was in Duisburg geschah, nicht um eine unplanbare Naturkatas­trophe handele. „Da haben Menschen Fehler gemacht“, sagt er und übernimmt „moralische Verantwortung“. Mit der Übernahme von Verantwortung tut sich Duisburgs Oberbürgermeister auch in diesem Interview schwer. „Kaum eine Loveparade ist so mit Sicherheitskonzepten hinterlegt worden“, behauptet Adolf Sauerland.

„Verhöhnung der Opfer“

Die Filmemacher fragten bei der NRZ nach und baten Chefredakteur Rüdiger Oppers um Klartext. Der nennt Sauerlands öffentliche Auftritte an den Tagen nach der Katastrophe eine „Verhöhnung der Opfer“. Der Rathaus-Chef hatte in einer ersten Stellungnahme den Toten eine Mitschuld zugewiesen. Bei einer der folgenden Pressekonferenzen wollte er gar nichts mehr sagen.

Den Versuch, die Schuld auf seine Dienststellen abzuwälzen, hat auch die NRZ von Anfang an kritisiert. Oppers: „Die Loveparade war das Wunschprojekt des Oberbürgermeisters. Der hat seinen Leuten Beine gemacht, und viele seiner Mitarbeiter haben gesagt, dass sie sich unter Druck gesetzt fühlten.“

Diese These bestätigt auch die Aussage eines Dortmunder Feuerwehrdirektors, der als Berater in Duisburg fungierte und den Zu- und Abgang des Geländes schon Wochen zuvor als „lebensgefährlichen Irrsinn“ bezeichnet hatte. Die Duisburger Fachleute sagten ihm, sie seien einem erheblichen politischen Druck ausgesetzt. Schlussfolgerung der Filmemacher: „Was in Duisburg nicht passte, wurde passend gemacht.“

Diesen Eindruck bestärkt auch das, was der anerkannte Sicherheitsforscher Dirk Oberhagemann in der TV-Dokumentation sagt. Er beobachtete das Loveparade-Gelände von einem benachbarten Hochhaus und filmte alles mit.

Eine Serie voller Pannen

„Es gab zahlreiche Planungsfehler und Nachlässigkeiten“, gibt er zu Protokoll. Die Polizei habe am falschen Ort den Weg abgesperrt. Noch weitere Fehler werden in der Doku aufgelistet: Der Lautsprecherwagen der Polizei stand in der Werkstatt, ein Beamter an zentraler Stelle vor Ort hatte kein Funkgerät, andere Funkgeräte setzten aus.

Die Pannenserie setzte sich bis zu den eingesetzten Ordnern fort. Nicole Ballhauser aus Essen, zusammen mit ihrer Schwester als Ordnerin eingesetzt, war nicht darüber informiert, dass der Tunnel und die Rampe nicht nur als Eingang, sondern auch als Ausgang vorgesehen waren. Kurz vor der Katastrophe schickte sie Jugendliche, die das Gelände verlassen wollten, wieder zurück. „Vielleicht habe ich sie dadurch in ihren Tod geschickt“, sagt sie.

Die Filmemacher von „Spiegel TV“ ziehen die Bilanz ihrer Recherchen und nennen so auch ihren sehenswerten Film: „Eine amtlich genehmigte Katastrophe.“