Duisburg. Frühere Thyssen-Beschäftigte gehen jeden Dienstag auf Inspektionstour durch den Duisburger Landschaftspark Nord und erledigen dort kleinere Instandsetzungs-Arbeiten. Die „Ehemaligen“ führen aber auch Besuchergruppen über das Areal.
Sie treffen sich jeden Dienstag. Immer um 8 Uhr morgens. Dann schlüpfen sie in ihre Arbeitsanzüge, trinken noch schnell einen Kaffee zusammen und ziehen danach los aufs 180 Hektar große Gelände des Landschaftsparks Nord. Auf ihren Kontrollgängen überprüfen sie alle Stahlkonstruktionen, führen kleinere Reparatur- und Wartungsarbeiten durch. Doch am liebsten führen sie Besucher durch das ehemalige Hüttenwerk, das einst ihr Arbeitsplatz war. Sie, das sind die „Ehemaligen“. Oder wie sie sich selbst nennen: die „Ehrenamtlichen“.
Diese Gruppe besteht aus früheren Thyssen-Beschäftigten. Sie alle kennen Kraftzentrale und Hochöfen noch aus jenen Zeiten, als hier in Meiderich täglich tonnenweise Roheisen produziert wurde. Und zu ihrer früheren beruflichen Heimat pflegen sie noch immer engstmöglichen Kontakt. Alte Verbundenheit eben. Bei der Suche nach einem festen Domizil waren aber zunächst Geduld und Umzugsbereitschaft gefragt. „Erst waren wir im zentralen Messhaus untergebracht, dann in der Wassermannbude, von dort ging es ins Hauptschalthaus, ehe wir in der Energiewarte sesshaft werden konnten“, sagt Wolfgang Schulden.
Gründungsvater war Dr. Ebert
Der Meidericher (77) zählt neben Günter Emmerich (65), Andreas Wildner (64) und den an diesem Tag verhinderten Jürgen Dreide zu den Gründungsmitgliedern. „Gründungsvater und Keimzelle von allem ist aber Dr. Wolfgang Ebert. Ohne ihn würde es den Landschaftspark und diese Runde nicht geben“, erklärt Schulden. Mit den Jahren kamen Waldo Brenner (79), Wolfgang Staszewski (65), Alois Häusler (76), Karlheinz Roth (79) und Rolf Beckmann (79) mit in den Kreis. Letzterer hält als Sprecher der Ehemaligen den Kontakt zur Parkleitung. Und Beckmann hat als gelernter Tischler auch Teile der aus Holz gefertigten Innenausstattung geschaffen, die das Innere dieser ehemaligen Schaltstelle für die Gasnutzung heute verschönert.
„Wir versuchen, jedes einzelne Bauteil mindestens einmal im Jahr zu überprüfen“, formuliert Waldo Brenner, selbst 39 Jahre für Thyssen aktiv, das ehrgeizige Ziel der Runde. Dabei hilft ihm Wolfgang Staszewski. Der Verfahrensingenieur nahm einst selbst als Besucher an einer Führung durch den Landschaftspark teil. Die Frage „Hast du nicht Lust, bei uns mitzumachen?!?“ beantwortete er mit: „Ja sicher!“
„Der Wolfgang kennt hier jede Schraube“
Alois Häusler – in Marxloh geboren, heute in Voerde lebend – war im Hüttenwerk einst als Maschinenbautechniker und später im Bereich der Sicherheit tätig. Als geschichtsinteressierter Mensch kümmert er sich heute auch ums Archiv. Darin sind unzählige Pläne, Schriften und Aufzeichnungen gelagert.
Wolfgang Schulden, früher Kolonnenführer im Erhaltungsbetrieb, nennt sich Instandsetzer. „Der repariert, was ihm unter die Finger kommt“, flachsen die anderen. Es schwingt Anerkennung mit, wenn sie sagen: „Der Wolfgang kennt hier jede Schraube mit Vornamen.“
Über eine Zeitungsanzeige den Kontakt geknüpft
Günter Emmerich war früher im Werk der Leiter der Mess- und Regelabteilung. Er genießt es, wenn er bei Führungen den Besuchern die Geschichte(n) von damals näherbringen kann. Obwohl er im knapp 70 km entfernten Olfen lebt, ist er regelmäßig bei den Treffen dabei. Da hat Andreas Wildner eine deutlich kürzere Anreise: Der Kaufmann aus Neudorf ist der Einzige, der nicht im Werk gearbeitet hat und einst über eine Zeitungsanzeige von Gründungsvater Ebert den Weg hierher fand. Auch er genießt die Führungen. „Wo sonst können Bürger einen Hochofen anfassen?“
Da nickt Karlheinz Roth zustimmend. Der frühere Schweißer, Kranführer und Elektriker, der am Zinkhüttenplatz in Alt-Hamborn lebt, erzählt von der Absprache mit der Parkleitung: „Strom, Heizung und Wasser haben wir frei – dafür leisten wir unsere Arbeit.“ Und das jeden Dienstag aufs Neue. . .
Millionen Tonnen Roheisen in 82 Jahren Produktionszeit
Einst waren hier Wiesen und Felder. Und die Emscher plätscherte als natürlicher Fluss daher. Doch dann erkannte der Industriemagnat August Thyssen die Standortvorteile dieses Areals, das sich zwischen Meiderich und Hamborn erstreckte. Im Jahr 1901 erfolgte dann der Baubeginn. Und am 16. Mai 1903 wurde Hochofen 1 angeblasen. Das Hüttenwerk in Meiderich nahm seine Arbeit auf und wurde zu einer der zahlreichen Produktionsstätten für Roheisen auf heutigem Stadtgebiet.
„Thyssen hatte drei gute Gründe für die Ansiedlung: Das war die Nähe zur Kohle, die Nähe zum Rhein und die Nähe zur Eisenbahnlinie“, erzählt Wolfgang Schulden aus dem Kreis der Ehemaligen. Das Werk wuchs schnell: Hochofen 2 ging im August 1903 in Betrieb. 1912 standen dann alle fünf Hochöfen unter Feuer. Die Belegschaftsstärke lag durchschnittlich bei 1600 Mitarbeitern. Der Höchstwert stammt aus den Jahren 1938/39 – also kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, als der Hunger nach Eisen der Rüstungsindustrie fast unersättlich war. „Damals waren es bis zu 2000 Mitarbeiter“, so Archivar Alois Häusler.
300 verschiedene Sorten Spezialroheisen wurden in Meiderich erzeugt – etwa Gusseisen oder Gießereiroheisen. Auch deshalb trug das Werk den Spitznamen „Apotheke des Ruhrgebietes“. Nur eines wurde dort nie hergestellt: Stahl.
Verdrängung der Landwirtschaft als Folge
Die Ausbreitung der Industrie an dieser Stelle zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte in Meiderich automatisch eine Verdrängung der Landwirtschaft zur Folge. Zahlreiche Bauernhöfe wurden von August Thyssen aufgekauft – und danach sofort abgerissen. Ein einziger blieb bestehen. Und der ist heute immer noch erhalten: der Ingenhamms-hof. Bis in die 60er Jahre belieferte der die Hüttenwerks-Kantine mit seinen landwirtschaftlichen Erzeugnissen. Heute ist es ein Lehrbauernhof, dessen Betrieb nach einem Großbrand im Oktober 2013 aber arg eingeschränkt ist.
Zurück zum Hüttenwerk: Rings herum um den Wasgauplatz wurde eine Werkssiedlung aus zwei- bis dreigeschossigen Mehrfamilienhäusern errichtet. Dort fanden die Hütten- und Gießereiarbeiter, die Kokereibeschäftigten und die Bergleute der nahe gelegenen Schachtanlage 4/8 ein neues Zuhause.
Geschlossen wurde das Werk am 4. April 1985. In den 82 Jahren wurden 37 Millionen Tonnen Roheisen produziert. „Die Belegschaft wurde erst kurz vorher informiert“, so die Ehemaligen. „Das war für viele ein Schock.“ Am Ende zählte die Notbelegschaft noch 350 Mitarbeiter. Jedoch wurde kein einziger arbeitslos: Die Mitarbeiter gingen in den Vorruhestand oder wurden auf andere Thyssen-Werke verteilt.
Wissenswertes zum Landschaftspark
Wussten Sie eigentlich, dass...
...pro Jahr inzwischen mehr als eine Million Gäste den Landschaftspark Nord in Meiderich besuchen. Er zählt damit zu den absoluten Publikumsgiganten in der Reihe der Industriekathedralen des Ruhrgebiets.
...rund 1500 gebuchte Führungen im Jahr 2013 mit Zehntausenden Besuchern im Landschaftspark stattfanden. Einer von insgesamt 28 Parkführern – darunter die Ehemaligen (siehe Artikel) – versorgt die Gäste dabei mit Fakten und Anekdoten.
...die Jahresproduktion des Hüttenwerks bei 700 000 Tonnen Roheisen lag, als die Hochöfen 3 (1968) und 4 (1970) abgerissen wurden. In den 82 Jahren Laufzeit (1903 bis 1985) waren es insgesamt 37 Millionen Tonnen.
...ein Hochofen mit 1000 Tonnen Roheisenerzeugung in 24 Stunden drei Millionen Kubikmeter Hochofenwind benötigt.
...die Erzbunker, in denen heute geklettert wird, auch Möllerbunker heißen. „Möllern“ stammt aus dem Altdeutschen und bedeutet „mischen“.
...der Möller bis in die 50er Jahre im Hängebahnwagen per Senkrechtaufzug auf die Gichtbühne des Hochofens transportiert und dort von Hand in den Ofen gekippt wurde. Dieser Befüllungsvorgang wiederholte sich alle fünf Minuten.
...die Produktion an Roheisen an Hochofen 1 durchschnittlich bei 800 Tonnen pro Tag lag. Verglichen mit heutigen Maßstäben handelte es sich also um einen eher kleinen Hochofen.
...die Kraftzentrale bis 1965 nicht nur das Hüttenwerk, sondern auch die benachbarte Wassersiedlung an der Neubreisacher Straße mit Strom versorgte.
...die für 4200 Personen zugelassene Kraftzentrale heute die größte Veranstaltungshalle in ganz Duisburg ist.
...sich im Landschaftspark mehr als 450 Arten von zum Teil seltenen und geschützten Blütenpflanzen finden lassen – also etwa 30 Prozent aller wild wachsenden Pflanzenarten in NRW.
...40 Brutvogelarten im Landschaftspark nachgewiesen wurden, von denen elf sogar auf der „Roten Liste“ der vom Aussterben bedrohten Tierarten stehen.
...der Landschaftspark über ein insgesamt 30 Kilometer langes Fuß- und Radwegenetz verfügt.
...der vierte Kamin, dessen Sockel noch heute auf dem Sinterplatz zu sehen ist, am 30. April 1992 gesprengt wurde.