Duisburg. . Mittwoch wird der Pogromnacht vom 9. November 1938 gedacht. In der Redaktion meldete sich eine Zeitzeugin, die damals noch ein Kind war. Auf Bitten ihrer eigenen Kinder hat Marianne Intveen-Lindner aus Kaßlerfeld ihre Erinnerungen an den Tag danach aufgeschrieben, als sie mit ihrer Mutter durch die Innenstadt ging und mit dem unmenschlichen Geschehen in der Nacht konfrontiert wurde.
Mittwoch wird der Pogromnacht vom 9. November 1938 gedacht. In der Redaktion meldete sich eine Zeitzeugin, die damals noch ein Kind war. Auf Bitten ihrer eigenen Kinder hat Marianne Intveen-Lindner aus Kaßlerfeld ihre Erinnerungen an den Tag danach aufgeschrieben, als sie mit ihrer Mutter durch die Innenstadt ging und mit dem unmenschlichen Geschehen in der Nacht konfrontiert wurde. Wir geben ihren Text in nahezu ungekürzter Fassung wider.
Ein nasskalter, dunstiger Herbstmorgen . . . so richtig Novemberstimmung. Wohlig dehne ich mich im warmen Bett. „Komm, steh auf Kind! Zieh dich warm an. Wir gehen in die Stadt.“ Mutters Stimme ist ernst. Ich verspüre wenig Neigung, ihrer Anordnung Folge zu leisten. „Sooo früh?“ gebe ich gähnend zurück. „Beeile dich!“ Oh, diesen bestimmten Ton kenne ich und leiste ihm sofort Folge.
Aber ob Mutter sich nicht vertan hat? Es ist erst 8.30 Uhr . . . und ich habe schulfrei. Mit geheimem Achselzucken mache ich mich fertig, Mutter gibt keine Auskunft. Ihr Gesicht wirkt verschlossen.
Beim Ausatmen stehen kleine Wölkchen vor ihrem Mund, als wir durch die Schwanenstraße gehen. An der Beekstraße halten wir betroffen inne. „Aber, Mutter, was ist . . . ?“
„Still!“ flüstert Mutter hastig. „Nichts sagen, Nichts fragen!“
Möbel, Bettzeug, Hausrat . . . das Eigentum einer Familie, die im zweiten Stock wohnt, liegt in einem wirren Haufen auf der Straße. Ein SA-Mann bewacht die Trümmer. Er mustert uns scharf, als wir vorbeigehen. „Gehört einer jüdischen Familie“ murmelt meine Mutter, ohne die Zähne voneinander zu lösen. Nach einer Weile wieder solch ein Trümmerhaufen, bewacht von zwei Braunen. Die Trümmer schwelen. „Auch Juden?“ hauche ich. Mutter nickt mit steinernem Gesicht. Hinten an der Junkerstraße brennt es lichterloh und keine Feuerwehr ist zum Löschen erschienen.
Die Synagoge brennt
SS bewacht das Feuer, spottet, lacht und macht judenfeindliche Bemerkungen. „Los Leute, nicht gaffen,“ ruft uns ein junger Kerl in schwarzer Uniform zu. „Ihr braucht euch nicht hier zu wärmen an dem Judenfeuerchen. Jude verrecke! Die Juden müssen ausgerottet werden.“ Dabei zeigte er lachend die weißen Zähne in dem braun gebrannten Gesicht. Ich starre ihn an, verstehe nichts und möchte fragen. Mutter ahnt das wohl und zerrt mich eilig weiter. „Komm, komm, Kind.“
„Das ist ja schrecklich . . .“ Meine Mutter nickte und raunte mir zu: „Ruhig jetzt! Zuhause erzähle ich dir mehr.“
Angst vor der SA
Auf dem Rückweg begegnet uns eine Bekannte, die ich Tante Änne nenne. Sie bleibt auf der Schwanentorbrücke stehen und legt plötzlich los, obwohl meine Mutter sich ängstlich umschaut: „Stellt euch das vor! Es ist einfach nicht zu fassen . . . Auf der Grünstraße haben sie ein jüdisches Mädchen über das Feuer gehalten und dabei geschrien: „Ihr Judenschweine werdet alle vernichtet, ausgerottet!“ „Das Kind schrie jämmerlich nach den Eltern. Aber die hat man schon abtransportiert. Meint ihr, einer der Zuschauer hätte dem Kind geholfen . . . ?“ Gerade will ich fragen: „Du auch nicht, Tante Änne?“, da gibt mir Mutter einen leichten Stups. Breit und gewichtig kommt ein SA-Mann auf uns zu. Stumm gehen wir auseinander.
Gedenkveranstaltung
Die Gedenkveranstaltung der Stadt und der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit sowie der Deutsch-Israelischen Gesellschaft beginnt am 9. November um 18 Uhr im großen Sitzungssaal des Rathauses. Anschließend führt ein Schweigemarsch zur Gedenkstätte am Rabbiner-Neumark-Weg zur Kranzniederlegung.
Zuhause setzt Mutter sich still hin. Ihr Gesicht ist verstört und vergrämt. Sie bedeckt es mit den Händen und sagt immer wieder: „Das wird sich rächen und dann müssen die Unschuldigen mit den Schuldigen leiden. Das kann nicht einfach so geschehen. Es gibt noch eine Gerechtigkeit.“
Dann erzählt sie mir von dem Hass, mit dem Hitler und seine Leute die Juden verfolgen. „Heute Nacht haben sie all das getan, auch die Synagoge in Brand gesteckt, weil in Paris ein Jude einen Deutschen erschossen hat.“ „Aber was können denn unsere Duisburger Juden dafür?“ Darauf kann meine Mutter auch keine Antwort finden.
Geschäfte der Juden verboten
Jetzt fällt mir all das ein, was ich in den letzten Tagen hier und da gesehen hatte: Plakate, dass man nicht bei Juden kaufen soll. Verstehen kann ich den Hass natürlich nicht. In der vorigen Woche hatten zwei SA- Männer mit uns geschimpft, als wir aus einem Schreibwarengeschäft an der Beekstraße kamen, Irmgard und ich. „Ein deutsches Mädchen kauft nicht bei Judenschweinen.“ Auch bei der jüdischen Metzgerfrau Kann in der Bülowstraße durften wir eigentlich nichts mehr kaufen. Wenn keine Gefahr in der Nähe ist – kein SA-Mann sich blicken lässt, kaufe ich weiter dort ein. Die Metzgerfrau sieht so traurig aus . . .
Nein, ich begreife es eigentlich nicht, warum diese guten Leute plötzlich unsere Feinde sein sollen. Ich begreife es nicht, warum man ihnen das alles antut. Ich weiß nur, dass es etwas ganz, ganz Schlimmes ist, was da mit den Juden geschieht und das Hass immer etwas ganz böses ist.