Duisburg. .
Es war am späten Nachmittag, als am 24. Juli die Loveparade zum tödlichen Alptraum wurde. Seitdem herrscht an der Karl-Lehr-Straße in Duisburg Trauer. Ein Besuch am Unglücksort – genau einen Monat nach der Tragödie.
Der Rollstuhlfahrer hat den Blick gesenkt, die Augen halb geschlossen. Es scheint gerade so, als bete der Mann. Hier, vor dem Zaun, der die Rampe verschließt, die von der Karl-Lehr-Straße aufs Gelände des früheren Güterbahnhofes führt. Hier, wo tausende Grablichter stehen, verwelkte Blumen, vertrocknete Kränze und vergilbte Zettel ans Drama erinnern. Hier, wo vor genau einem Monat die Loveparade 2010 zur Katastrophe wurde.
Es ist Dienstagnachmittag, 24. August, 17 Uhr. Rund 20 Menschen befinden sich vor der Rampe. 20 Menschen – dort, wo sich am Partytag vor vier Wochen Zehntausende drängelten. Dort, wo Hunderte verletzt wurden. Dort, wo es Tote gab. Schlussendlich 21 an der Zahl.
Die Sonne scheint, im Wind flattern Fahnen, T-Shirts, bemalte Bettlaken, Briefe –Trauergaben, die zahllose Menschen hier niederlegten. Die Besucher sind über den Platz verstreut, stehen zu zweit, zu dritt, lesen Briefe, betrachten zerzauste Kuscheltiere, diskutieren („…so offensichtlich zu eng“). Ein Junge entzündet ein Grablicht, der Vater formt einen Windschutz mit den Händen. Drei Radler queren den Platz, nehmen nicht groß Notiz. Ein junger Mann geht vorbei Richtung Düsseldorfer Straße, das Handy am Ohr: „Mann, das war heut ein Tag, du, suuuper stressig…“. Das Bild der Trauer – für manche Duisburger scheint es Alltag geworden zu sein.
„Hier lag ein toter Mensch“
17.12 Uhr: Ein Polizeihubschrauber fliegt über die Rampe, die meisten Anwesenden blicken auf. Zwei Runden dreht er, bevor er verschwindet. Auf dem Bordstein vor dem Container, in dem am Partytag ein Crowdmanager die Rampe überwachte, sitzt eine blonde Frau. Sie sieht nicht auf. Starrt vor sich hin. Gedankenverloren.
17.15 Uhr: Ein Mädchen im rot-weißen Hemd bricht in Tränen aus. Sie schluchzt, zieht die Schultern zusammen, fasst sich wieder, wischt die Tränen weg, nimmt einen Zug aus der Zigarette. Ob sie dabei war? Vor vier Wochen um diese Uhrzeit war die Situation an der Rampe vollends eskaliert, trafen die Sanitäter ein. Es drängten zu viele Menschen zu der Steintreppe, die etwa 50 Meter vom Standort des Mädchens entfernt nach oben führt. Zur Treppe, die ein Entkommen verhieß aus der qualvollen Enge der Massen. Zur Treppe, vor der mehr als zehn Menschen den Tod fanden. Gefallen. Zertrampelt. Zerquetscht.
Einen Moment verharrt das Mädchen in der Mitte des Platzes, dann geht sie in Richtung Tunnel. Ein älterer Mann tritt hinzu, weist mit seiner Hand auf eine Bank am Rand. „Warst du dabei?“, will er wissen. Das Mädchen macht einen Schritt zur Seite, wendet sich ab, geht weg. Dort, wo sie gerade noch stand, fällt der Blick auf einen Ziegelstein. Aufschrift: „Hier lag ein toter Mensch“.
Ein Mann in Schwarz
17.36 Uhr: Oberhalb der Rampe, auf der Brücke, erscheint ein Mann. Schwarze Kleidung. Funkgerät am Hosenbund. Security. Er bleibt stehen, beugt sich über das Geländer, wirft einen Blick auf den Platz. 17 Sekunden. Dann geht er weg. Zu diesem Zeitpunkt vor einem Monat interviewte Comedian Oliver Pocher gerade Duisburgs Oberbürgermeister Adolf Sauerland. Ein lustiges Interview. Keine Rede von dem Drama, das sich zeitgleich ein paar hundert Meter weiter zutrug.
17.44 Uhr: Drei Besucher diskutieren vor der Rampe die Schuldfrage. Bemängeln fehlende Hinweise auf die Notausgänge. Verteufeln den luxuriösen VIP-Zugang am anderen Ende des Geländes. Man hätte können, wäre doch nur, man hätte sollen…
17.57 Uhr: Ein grauhaariger Mann bleibt stehen, blickt aufs Grablichtermeer, faltet die Hände. Innehalten. Genau um 17.57 Uhr am Partytag, am 24. Juli, schickte die Duisburger Polizei jene Pressemitteilung heraus, die im Nachhinein noch vielfach ergänzt werden sollte. Jene Pressemitteilung, die Deutschlands größte Katastrophe seit etlichen Jahren im Amtsdeutsch beschrieb. Jene Pressemitteilung, die Duisburg für lange Zeit verändern sollte. Originaltext: „Im Verlauf einer Massen-Panik im Tunnel der Karl-Lehr-Straße sind nach bisherigen Erkenntnissen offenbar zehn Personen getötet, zehn Personen reanimiert und etwa 15 Personen verletzt worden.“ Innehalten.