Duisburg. .

Nicole Abbassi und andere Anwohner der Karl-Lehr-Straße hatten einen unfreiwilligen Logenplatz auf die Katastrophe bei der Loveparade – und erheben Vorwürfe: Die Organisatoren hätten im Vorfeld die Bedenken wegen des engen Tunnels beiseite geschoben.

Nicole Abbassi ringt um Fassung. Die Momente der Massenpanik, die sie und ihre Nachbarn miterleben mussten, sie kehren immer wieder vor ihr inneres Auge zurück. Als Anwohner der Karl-Lehr-Straße 16 wohnt sie neben dem Eingang zu jenem Tunnel, der am Samstag mindestens 19 Menschen in den Tod führte. Dieser unfreiwillige Logenplatz auf die Katastrophe war ein grauenvoller.

Dabei hatte alles ruhig und fröhlich begonnen. Bereits ab dem Vormittag strömen die Raver an den braunen Backsteinhäusern hier im Dellviertel vorbei. Und Nicole Abbassi steht mit vielen Nachbarn vor der Haustür im Vorgarten. Diese liegen einige Meter über dem Höhenniveau der Straße, so dass sie von dort auf die Massen hinunter schaut. Als Trennlinie zwischen dem Grundstück und der Zugangsstraße zum Festivalgelände dienen provisorische Zäune, die überall im Stadtgebiet als Sperren benutzt werden. Einziger Unterschied: Diese hier sind nicht aneinandergesteckt, sondern verschraubt. Das Öffnen wird so zum Ding der Unmöglichkeit.

„Plötzlich ging nichts mehr“

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Die Party ist im vollen Gange. Die allgemeine Stimmungslage dies- und jenseits des Zauns: entspannt und heiter. Bis gegen 16 Uhr ist es im und vor dem Tunnel konstant prall gefüllt, aber eben nicht überfüllt. „Plötzlich ging aber nichts mehr – und von hinten rückten immer mehr Menschen nach. Ich habe nicht verstanden, warum die Polizei nicht spätestens dann an der Kreuzung zur Düsseldorfer Straße alles dicht gemacht hat“, sagt Abbassi.

Nun beginnt für die Anwohner das Chaos. Weil es auf offiziellem Wege kein Weiterkommen gibt, suchen sich die Ungestümen einfach Umwege durch schlechter bewachte Seitenstraßen in der Nähe. Sie alle wollen so den Tunnel-Engpass umgehen – und landen dabei nur in den Gärten der Anwohner an der Karl-Lehr-Straße. „Wir wurden überrannt. In Gruppen von zehn bis 20 Leuten sind sie im Minutentakt über unser Zäune geklettert – oder haben sie eingetreten. Erst als sie an unseren Häusern seitlich vorbei waren, haben sie gesehen, dass sie sich immer noch vor dem Tunneleingang befanden“, schildert Abbassi.

Dann werden Schreie und Hilferufe immer lauter. Auch die Anwohner wissen nun: Es muss etwas Schlimmes passiert sein. Und hilflos müssen sie mit ansehen, dass dieses Gedränge und Gequetsche zur Falle wird. „Es war wie damals bei der Fußball-Katastrophe im Brüsseler Heysel-Stadion. Es wurde einfach von hinten weiter gedrängt.“ Versuche, irgendwie zu helfen, enden erfolglos. Als die Katastrophen-Nachricht von Toten durchdringt, vergeht laut Abbassi weitere Zeit, bis die Rettungskräfte zu den Opfern vordringen. „Dort wurde eine provisorische Intensivstation eingerichtet. Wir sind später auch hin und fragten die Helfer, ob wir etwas machen können. Mein Nachbar ist Rettungssanitäter. Als wir dort waren, haben wir viele junge Sanitäter gesehen, die mit den Nerven völlig am Ende waren und selbst geweint haben.“

Bedenken beiseite geschoben

„Wir wussten, dass so etwas passieren würde. Dieser Tunnel ist doch schon beklemmend, wenn man allein durchläuft. Und jetzt waren Tausende da drin.“ Dann hält sie kurz inne und sagt: „Wie konnte man die hier nur durchlaufen lassen...“ Dies ist keine Frage. Sondern ein Vorwurf in Richtung Organisatoren.

Die hatten sich vor drei Monaten sogar extra noch mit allen Anwohnern getroffen – und ihr Sicherheitskonzept erläutert. „Immer, wenn wir Bedenken geäußert haben – gerade zum Tunnel – dann wurden diese höflich, aber bestimmt beiseite geschoben“, ärgert sich Abbassi. „Wir haben uns nicht ernst genommen gefühlt.“ Deshalb klagt sie nun auch an: „Das Sichehreitskonzept des Veranstalters hat überhaupt nicht gegriffen. Selbst ein Polizist hat mir gegenüber zugegeben, dass man hoffnungslos überfordert sei.“

Den Schmerz und den Ärger über das Erlebte kann Nicole Abbassi aber deshalb ertragen, weil sie am Samstagabend ihre vermisste Tochter in die Arme schließen konnte. Die war selbst auf dem Gelände, als es passierte. Und sie kehrte zurück. Gesund.