Duisburg. Die Nazi-Herrschaft ist 1933 wenige Wochen alt, als in Duisburg Juden öffentlich misshandelt werden. Bis ein sehr ambivalenter Held eingreift.
Adolf Hitler ist erst wenige Wochen Reichskanzler, als sich der Judenhass zunehmend in gewaltsamen Angriffen entlädt. Im Frühjahr 1933 üben SA und SS auf den Straßen Terror aus. Die NSDAP demontiert mit neuen Gesetzen den Rechtsstaat und vergrößert ihre Macht. In Duisburg erreicht die Gewalt am 23. März einen vorläufigen Höhepunkt: In der Innenstadt werden drei Männer unter Beifall der Masse misshandelt und gedemütigt.
Am Morgen stürmen SA-Trupps das Landgericht am König-Heinrich-Platz, jagen jüdische Juristen aus ihren Amtsräumen. „In Zukunft dürfte über einen deutschen Mann niemals wieder ein rassefremder Richter zu Gericht ziehen“, kommentiert anschließend die antisemitische Duisburger National-Zeitung. Fast zeitgleich zu dieser Säuberungsaktion werden in der Altstadt Jüdinnen und Juden gewaltsam aus ihren Wohnungen gezerrt. Drei von ihnen werden von rund 30 SS-Leuten in Richtung Stadttheater getrieben, begleitet von einer immer größer werdenden Menschenmenge.
Tausende Duisburger hetzen Juden durch die Innenstadt
Eines der Opfer ist Marcus Jakob (Mordechai Jakow) Bereisch, wohnhaft in der Charlottenstraße. Der orthodoxe Prediger ist Vorsteher der ostjüdischen Gemeinde, trägt als Ausdruck seiner Religiosität traditionelle Kleidung, einen Hut und einen langen Bart. Der wird ihm von der Meute abgeschnitten, vielleicht sogar ausgerissen. Während des gesamten Weges ist Bereisch Demütigungen, Beleidigungen und Schlägen ausgesetzt.
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Er und die zwei weiteren Opfer müssen die schwarz-rot-goldene Fahne tragen, für die Nazis Symbol der verhassten Weimarer Demokratie. Es existiert ein Foto, das die Szene zeigt: Den drei Männern ist jeweils eine Fahne um den Hals gebunden, der Hintermann muss sie der Person vor ihm nachtragen. Wohl 2000 bis 3000 Duisburgerinnen und Duisburger nehmen begeistert an diesem Prangerzug teil. Kein einziger dieser vielen Menschen hätte protestiert, berichtet Marcus Bereisch später.
Vor dem Theater schließlich, die drei Juden erleiden Todesängste, greift doch jemand ein. Ein hochrangiger Polizist stellt sich der SS entgegen, lässt seine Autorität spielen. Er erwirkt die Freilassung der Männer und nimmt sie in Schutzhaft.
Ambivalenter Held: Kurt Nabakowski „funktionierte gut im System“
Der Mann, der hier Schlimmeres verhindert, heißt Kurt Nabakowski. Der Polizeihauptmann beschützt nicht nur Bereisch und die zwei anderen Opfer vor der hasserfüllten Menge. Hinterher fordert er in seinem Bericht auch die Bestrafung der SS-Leute. Sie hätten schließlich ohne entsprechenden Erlass gehandelt.
Ein Held? Ganz so einfach ist es nicht. Marcus Bereisch ist zwar überzeugt, dem Polizisten sein Leben zu verdanken. Und Nabakowski geht durch sein Einschreiten sowie den späteren Protest ein Risiko ein.
Doch einige Quellen zeichnen ein anderes Bild: 1938 etwa wird Kurt Nabakowski wegen Misshandlung Untergebener für ein Jahr aus dem Militärdienst entlassen. Zu diesem Zeitpunkt ist er Major bei der Flakartillerie der Wehrmacht. Ein Jahr später, bei Kriegsbeginn, ist er wieder Soldat, nimmt erst am Überfall auf Polen, dann am Feldzug im Westen teil. Seine frühere Verfehlung habe er durch Tapferkeit vor dem Feind wieder gut gemacht, heißt es im Bericht eines Vorgesetzten.
Duisburger Historiker beschäftigt sich seit Jahren mit dem „Judenzug“
In mehreren solcher Beurteilungen wird auch Nabakowskis Haltung zum Nationalsozialismus thematisiert. Er sei von diesem durchdrungen, heißt es da und trete jederzeit für den NS-Staat ein. Zur Vermittlung weltanschaulichen Unterrichts und nationalsozialistischen Gedankenguts sei er voll befähigt.
Der Duisburger Historiker Ludger Heid hat den 23. März 1933 lange untersucht und sich mit den Personen Marcus Jakob Bereisch wie auch Kurt Nabakowski intensiv auseinandergesetzt. Von einem „ambivalenten Bild“ spricht Heid in Bezug auf den Polizisten: „Er war nicht unbedingt ein Nazi, aber er funktionierte gut im System.“
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Geachtet, aber nicht beliebt sei Nabakowski gewesen, gebildet und kompetent, aber auch unbeherrscht und aufbrausend. Bei Lichte betrachtet, sagt Ludger Heid, habe der Mann einige der in den Bewertungen erwähnten Charakterzüge auch bei der Rettungstat in Duisburg gezeigt. Der Historiker schreibt Kurt Nabakowski „einen gewissen Sinn für Gerechtigkeit“ zu.
Dem Opfer des Duisburger Mobs, Marcus Jakob Bereisch, riet der Polizist noch, Deutschland so schnell wie möglich zu verlassen. Dieser folgte dem Rat, emigrierte über Belgien und Frankreich nach Zürich, wo er über Jahrzehnte als Rabbiner einer ultraorthodoxen Gemeinde tätig war. Nabakowski starb 1974 im badischen Brühl, Bereisch 1976 in Zürich.
Die Schilderungen zum Gewaltausbruch in Duisburg basieren auf Ludger Heids Buch „Ostjuden in Duisburg – Bürger, Kleinbürger, Proletarier: Geschichte einer jüdischen Minderheit im Ruhrgebiet“ (Klartext Verlag, Essen 2011). Das Bezug nehmende Kapitel heißt „Mordechai Jakow Bereisch – Dayan der ostjüdischen Gemeinde“ (Seiten 342 bis 369).
>>“STILLER HELD“ AUS DUISBURG: IDENTITÄT LANGE UNBEKANNT
Mit dem Prangerzug, der sich jetzt zum 90. Mal jährt, beschäftigt sich Ludger Heid seit den 1970er Jahren. Ein Schüler hatte dem damaligen Geschichtslehrer das Foto gezeigt, auf dem die drei Männer mit Fahnen um die Hälse zu sehen sind. „Die Geschichte hat mich berührt und ist mir heute noch wichtig“, sagt der Historiker, der sowohl dem Opfer Marcus Bereisch nachgespürt hat als auch dem „stillen Helden“ Kurt Nabakowski, der lange keine Würdigung erfuhr.
Anfangs war sogar die Identität des Polizisten unbekannt. Ludger Heid hat viele Anstrengungen unternommen, um mehr über diesen Mann zu erfahren, hat Archive in ganz Deutschland durchforstet und zu Menschen gleichen Nachnamens Kontakt gesucht. Auch Bereischs weiteren Lebensweg hat er rekonstruiert.
Zum 90. Jahrestag will auch das Duisburger Zentrum für Erinnerungskultur auf die Ereignisse vom März 1933 aufmerksam machen. Ein Aufsatz von Ludger Heid soll zeitnah auf dem Blog des Kultur- und Stadthistorischen Museums veröffentlicht werden.
Historiker Robin Richterich vom Zentrum für Erinnerungskultur arbeitet außerdem an einer Graphic Novel, einem Comicroman, der ebenfalls diesen Tag thematisiert.
Richterich betrachtet das Ereignis jedoch in einem größeren Kontext und blickt auf das gesamte Jahr 1933 in Duisburg, als die nationalsozialistische Ideologie immer mehr Bereiche des öffentlichen Lebens durchdrang. Derartige Prangerzüge habe es im Frühjahr 33 übrigens mehrere gegeben, sagt Richterich; der erste dokumentierte, fand demnach am 15. März in Marxloh statt.