Duisburg. Die Flächensanierung des Bergbau-Stadtteils Duisburg-Neumühl war ab 1963 eine riesige Aktion. Über große Hoffnungen, Erfolge und Fehlschläge.

Es war die größte Aktion ihrer Art in der alten Bundesrepublik, bei der aus einem alten Bergbau-Stadtteil etwas Neues gemacht wurde: die Flächensanierung in Duisburg-Neumühl ab 1963. Sie war, bezogen auf die Arbeitsplätze, erfolgreich, hat aber zu enormen sozialen Verwerfungen geführt. Darüber hat der Duisburger Archivar Dr. Michael Kanther im Stadtarchiv referiert.

Die nackten Zahlen können nur schwer ausdrücken, wie der Ort umgekrempelt wurde: rund 4000 neue Arbeitsplätze wurden geschaffen, 1400 Wohnhäuser mit 3700 Wohnungen abgerissen und an ihrer Stelle 5400 neue Wohnungen gebaut. Es war das zweite Mal nach 50 Jahren, dass in Neumühl kein Stein auf dem anderen blieb. Denn viel schneller als der Ruhrorter Haniel-Konzern vom Ende der 1890er Jahre an bis zum Ersten Weltkrieg (1914 bis 1918) die Gegend für den Bergbau hergerichtet hat, zog er sich von dort wieder zurück.

Das Zentrum der neuen Zeche war an der heutigen Wiener Straße, damals Haldenstraße, heute bekannt durch den benachbarten Zoo Zajac. Für die Bergleute wurden zwei Arbeiterkolonien gebaut mit den typischen großen Gärten: die Alte Kolonie zwischen Halden- und Fiskusstraße und die jüngere am Bergmannsplatz.

Imposant war das Verwaltungsgebäude der Zeche Neumühl an der Haldenstraße, heute Wiener Straße, hier in einer Aufnahme um 1910. Bild: Stadtarchiv Duisburg
Imposant war das Verwaltungsgebäude der Zeche Neumühl an der Haldenstraße, heute Wiener Straße, hier in einer Aufnahme um 1910. Bild: Stadtarchiv Duisburg © Stadtarchiv Duisburg

„Mit über 5000 Beschäftigten war die Zeche der mit Abstand größte Arbeitgeber“, berichtete der Historiker. Wohl und Wehe des Stadtteils mit seinen 35.000 Menschen hingen daran. Heute sind es noch halb so viele.

Stadt Duisburg kaufte Zechengelände in Neumühl für Millionen

Das Wehe trat Ende der 1950er Jahre ein. Kohle war gegenüber Erdöl aus dem Ausland zu teuer geworden. Haniel entschied, die Zeche zu schließen, bot aber Ersatzarbeitsplätze in Moers-Rheinkamp an. Im Dezember 1962 wurde die letzte Schicht gefahren, die Gebäude danach abgerissen.

Um den drohenden Niedergang Neumühls aufzuhalten, beschloss der Stadtrat 1963, das ehemalige Zechengelände für knapp 37 Millionen Mark aufzukaufen. Neue Wohnungen und Arbeitsplätze sollten entstehen, beide Arbeiterkolonien abgerissen werden.

„Man war damals in den Rathäusern von Planungseuphorie erfüllt“, erklärte Dr. Kanther. Die Planer wollten die Lebensumstände der Menschen verbessern. Wenn ihnen die Sache nicht entglitten wäre. Denn der Vorteil Neumühls, im Zweiten Weltkrieg (1939 bis 1945) nicht zerstört worden zu sein, erwies sich plötzlich als Nachteil. Viele Bergarbeiterfamilien zogen auf die andere Rheinseite oder 1966 in die neuen Hochhäuser im Hagenshof in Meiderich. Die Zechenhäuser wurden nicht sofort abgerissen, sondern billig weitervermietet. Und das war gefragt.

Bergleute zogen fort – Problemfamilien kamen

Bis dahin nämlich hatte man im Rathaus das Recht, Bedürftigen Wohnungen zuzuweisen. Die Regelung von Anfang der 1930er Jahre sollte ursprünglich verhindern, dass Tausende Arbeitslose auch noch wohnungslos wurden. Sie hielt die Mieten niedrig. Auf dem Höhepunkt des Wirtschaftswunders wurde sie für Duisburg abgeschafft.

Die Folge war, dass stadtweit die Mieten stiegen. Nur nicht in Neumühl, wo die leeren Zechenhäuser mit den Toiletten auf dem Hof noch kurzfristig zu mieten waren. Dorthin zogen Menschen, die sich das Wohnen woanders nicht mehr leisten konnten oder froh waren, aus den Baracken für Ausgebombte rauszukommen.

Sie ist heute eine Brachfläche: Die Siedlung im Gleisdreieck, in dem sich die beiden Bahnstrecken von Oberhausen Hbf nach Walsum und von Oberhausen-Osterfeld nach Moers getroffen haben. Damals lebten in den sogenannten Exmittiertenhäusern am Stadtrand allein 500 Kinder in prekären Verhältnissen.
Sie ist heute eine Brachfläche: Die Siedlung im Gleisdreieck, in dem sich die beiden Bahnstrecken von Oberhausen Hbf nach Walsum und von Oberhausen-Osterfeld nach Moers getroffen haben. Damals lebten in den sogenannten Exmittiertenhäusern am Stadtrand allein 500 Kinder in prekären Verhältnissen. © Stadtarchiv Duisburg

Der Ort wurde zur Hochburg von Menschen in prekären Lebenslagen. Dabei hatte er daran schon genug mit den älteren Exmittiertenhäusern am Ortsrand, im sogenannten Gleisdreieck, zu tragen. Allein dort, so Kanther, wuchsen mit den geburtenstarken Jahrgängen 500 Kinder heran.

Jetzt zogen weitere Problemfamilien zu. Als endlich mit dem Abbruch der Alten Kolonie begonnen wurde, mussten sie umgesetzt werden. Neue Notunterkünfte entstanden. Hochbunker wurden bewohnbar gemacht. An der Haldenstraße gab es sieben Wohnwagenlager. Die Zugezogenen hatten eigene Umgangsformen. „Wenn man da hinkam, gab es Kloppe“, warf ein Zuhörer ein.

Probleme und Spannungen gehörten zum Alltag

Der Experte zählte die Probleme auf: Die Betroffenen wurden kaum aufgefangen. Das Geld wurde in den autogerechten Ausbau einiger Straßen gesteckt. Der Bau von Schulen und Sozialeinrichtungen hinkte hinterher. Spielplätze wurden nur für Kleinkinder gebaut, Jugendliche sich selbst überlassen. Flüchtige Fürsorgezöglinge, Kinder- und Jugendbanden machten die Gegend unsicher. Der Bau der neuen Hochhäuser kam erst Anfang der 70er Jahre voran. Die öffentlichen Einrichtungen spiegelten die soziale Schieflage wider. Nicht nur an der neuen Hauptschule Salzmannstraße entluden sich ab 1975 die Spannungen.

Dr. Michael Kanther beim Vortrag in Duisburg.
Dr. Michael Kanther beim Vortrag in Duisburg. © Michael Dahlke

Dr. Kanther: „Neumühl wurde der größte Sonderschulbezirk in NRW.“ Das Projekt war aus dem Ruder gelaufen. Die Planer stritten mit dem Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk (heute RVR) um Kompetenzen.

Bürgerinitiativen fanden Nachahmer

Opposition gegen die Zustände ging zunächst von den Neumühler Kaufleuten aus. Sie sahen ihre Umsätze schwinden. Der Neumühl-Ausschuss des Stadtrates geriet als Spesenmacher in die Schusslinie. Er reiste viel, um andere Trabantenstädte zu besichtigen. Als Anfang der 1970er Jahre die Jüngere Kolonie und weitere Viertel beim Abriss an der Reihe waren, bildeten sich Bürgerinitiativen. Sie erreichten 1974 das Ende der Flächensanierung.

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Die führende SPD befürchtete, der Unmut könnte sie Stimmen kosten. Dr. Kanthers Fazit: Es wurden mehr neue Arbeitsplätze geschaffen, als es zuletzt auf der Zeche gab. Trotzdem: „Man hat so etwas nie mehr angepackt.“ Die Bürgerinitiativen dagegen fanden Nachahmer, so in der Rheinpreußensiedlung in Homberg.