Duisburg. Die Familien überfordert, die Schulen gestresst: In Duisburg können autistische Jugendliche jetzt in eine WG ziehen. Diese Hilfe bekommen sie.

Immer mehr Kinder und Jugendliche fallen mit Zügen von Autismus auf. In Duisburg gibt es jetzt ein neues Angebot für Teenager, das die Familien entlasten und den teils nicht beschulten Jugendlichen neue Chancen bieten soll: Die Wohngruppe Poseidon für Kinder mit autistischen Verhaltensweisen der Lebenshilfe in Marxloh. Sie wurde im Januar im Bunten Haus eröffnet.

Die ersten Bewohner sind eingezogen, weitere in der Genehmigungs-Warteschleife. In der großen Wohnküche ist schon der Spülschwamm ein Farbfleck, der Rest frisch gestrichenes Weiß und Grau. Reizarm nennen es die Pädagogen, für manche Autisten eine ideale Umgebung.

Teenager mit Autismus leben in einer WG auf Zeit

Das Konzept ist einem Internat ähnlich, nur ohne Lehrer: Von sonntagabends bis freitagnachmittags leben die Kinder in der WG, am Wochenende verbringen sie Zeit mit ihrer Familie. Total super findet das Tom, dessen Namen wir auf seinen Wunsch geändert haben. Er findet gerade aber auch super, dass er nicht zur Schule geht, länger schlafen kann, endlich mal keinen Stress hat.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass der 14-Jährige im vergangenen Jahr in der Schule einen totalen Ausraster hatte – mit Stühlen, die fliegen und großem Geschrei. Er selbst möchte von diesem „Doom Day“ nicht erzählen. Von da an ging es für ihn durch Psychiatrien und verschiedene Wohnangebote. „Das waren wilde Monate“, sagt Tom. Beim Interview macht er einen recht zufriedenen Eindruck, er wirkt, als ob er hier ankommen wolle.

Einrichtungsleiterin Katharina Klumbis sagt, dass fremdgefährdendes Verhalten bei vielen Autisten Teil des Krankheitsbildes sei. Wenn die Überforderung durch zu viele Menschen, zu viel Lärm, zu viel Druck zu groß werde, könne das passieren.

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Der Schulbetrieb ist für viele Autisten überfordernd

Für zwei ihrer Erst-Bewohner laufen deshalb Anträge auf eine ruhende Schulpflicht. Nicht jeder Autist passe in eine Regelschule, sagt Patricia Greifenberg, Geschäftsfeldleitung Förderung und Therapie der Lebenshilfe. Für manche seien Förderschulen eine gute Alternative. Bei Tom und einem der Mitbewohner versuchen sie es jetzt mit der Online-Beschulung – im eigenen Zimmer, im eigenen Tempo.

Die Internats-WG sei in der Umgebung bislang einmalig. Andere Einrichtungen setzen eher auf eine Komplett-Betreuung. „Wir wollen den Familien-Verbund erhalten und zugleich entlasten.“ Tom sagt, dass ihm das viel besser gefällt. In der Einrichtung, aus der er kommt, sah er seine Angehörigen nur selten. „Jetzt holen sie mich freitags ab und wir gehen ins Kino oder einkaufen.“

Nach und nach soll sich die WG für autistische Jugendliche in Duisburg-Marxloh füllen. Katharina Klumbis (links) ist die Einrichtungsleiterin, Patricia Greifenberg ist die Geschäftsfeldleitung der Lebenshilfe. Weitere Mitarbeiterinnen: Mevlüde Yergök (3.v.li.) und Sophia Röttges (re.).
Nach und nach soll sich die WG für autistische Jugendliche in Duisburg-Marxloh füllen. Katharina Klumbis (links) ist die Einrichtungsleiterin, Patricia Greifenberg ist die Geschäftsfeldleitung der Lebenshilfe. Weitere Mitarbeiterinnen: Mevlüde Yergök (3.v.li.) und Sophia Röttges (re.). © FUNKE Foto Services | Kerstin Bögeholz

Viele Formen von Autismus erfordern einen individuellen Umgang

Die Beziehung könne sich bessern, weil es keinen Streit mehr gibt über den Schulbesuch, häusliche Pflichten, den Umgang untereinander, sagt Greifenberg. Je nach Krankheitsbild seien auch kurze Aufenthalte in der WG und eine Rückkehr in die Familie möglich. Das Team begleite, vermittele Techniken. „Eltern sind halt keine Pädagogen“, ergänzt Klumbis. Für den besonderen Umgang mit Autisten sei aber auch ein Lehrerkollegium selten geschult, auch hier begleiten die Experten die Kinder, vermitteln den für dieses Kind richtigen Anpack.

Auch in der WG ist nicht alles Sonnenschein. Es gab eine erste eskalierende Situation, die aufgefangen wurde, das gehört dazu, findet Klumbis. Das Team müsse sich finden, die Jugendlichen auch. In der WG ist immer ein Mitarbeiter ansprechbar, rund um die Uhr. Ob sie einen Notfallknopf brauchen, werde sich zeigen. Unterstützung gebe es zur Not nebenan in der WG für Kinder mit erzieherischem Hilfebedarf. Mit den Nachbarn teile man sich auch eine Küchenkraft. Frühstück oder Zwischenmahlzeiten machen die Bewohner gemeinsam mit dem Team. Verselbstständigung lautet hier das Stichwort, für ein möglichst autonomes Leben nach dem 18. Geburtstag.

Tagesstruktur ohne Handy und Playstation

Solange die Bewohner nicht beschult werden, dreht sich vieles um das Miteinander und die Tagesstruktur. Denn die Teenager hängen bevorzugt am Handy, an der Playstation. Mit ihnen gemeinsam werden Alternativen gesucht. Schönes aus der nichtdigitalen Welt. Für Tom ist das Warum der Handysucht ganz klar: „Wenn ich mit jemandem draußen unterwegs bin, habe ich wenig Bedürfnis, ans Handy zu gehen, dann hab ich ja jemanden zum reden. Das Handy ist der Ausgleich, wenn keiner da ist.“ Zusätzlich zu seiner Autismustherapie möchte er eine Verhaltenstherapie machen, um mit sich und der Umwelt besser klar zu kommen. „Ich will meinen Autismus verstehen – und die Gefühle anderer.“

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Mit dem einen gehen sie Basketball spielen, mit einem anderen einkaufen. Tom möchte den Reitsport wieder aufnehmen. Hauptsache beschäftigt sein. „Wir wollen Kontakte zu Vereinen aufbauen“, sagt Greifenberg. Zur Inklusion gehöre, dass auch Autisten mit ihren besonderen Anforderungen Anschluss in die Gesellschaft finden. „Diese Menschen sind genau so wertvoll wie alle anderen, sie haben ihre Stärken, können in einem Beruf arbeiten.“

Tom zum Beispiel, der zuletzt in die achte Klasse ging, möchte Abitur machen, Chirurg werden. Die Serie „The Good Doctor“, in der ein Autist erfolgreich als Arzt in einem Krankenhaus arbeitet, hat er komplett geguckt. Mit der introvertierten Filmfigur vergleiche er sich aber nicht. Tom hält Augenkontakt, ist aufgeweckt, fragt nach. Das ist schon mal eine gute Voraussetzung für die Zukunft.

Das Bunte Haus der Lebenshilfe beherbergt eine Kita und mehrere Wohngruppen für unterschiedliche Krankheitsbilder und Unterstützungsbedarfe.
Das Bunte Haus der Lebenshilfe beherbergt eine Kita und mehrere Wohngruppen für unterschiedliche Krankheitsbilder und Unterstützungsbedarfe. © FUNKE Foto Services | Kerstin Bögeholz

>>AUTISMUS

  • Autismus oder Autismus-Spektrum-Störungen sind neurologische Entwicklungsstörungen. Oft sind die Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung gestört.
  • Die Erkrankung wirkt sich auf das soziale Miteinander aus, auf Möglichkeiten der Kommunikation und Verhaltensweisen.