Duisburg. Hätte die Polizei den lange vermissten Marvin früher finden können? Eine Polizistin ging einem Hinweis nicht nach. Staatsanwaltschaft ermittelte.

Mit dieser Nachricht rechnete kurz vor Weihnachten 2019 kaum noch jemand: Ermittler hatten den seit über zwei Jahren vermissten Marvin aus Duisburg (damals 15 Jahre alt) bei einer Hausdurchsuchung in Recklinghausen in einem Schrank entdeckt. Ein Zufallsfund. Nur wenige Tage später keimten erstmals Vorwürfe gegen die Polizei Duisburg auf. Hätten die Ermittler den Jungen schon früher finden können?

Denn: Schon im Juli 2019 ging während der ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY“ ein Zeugenhinweis darauf ein, dass sich Marvin bei Lars H. aufhalten könnte – bei dem Pädophilen also, der später, im September 2021, zu neun Jahren Haft verurteilt wurde. Die Staatsanwaltschaft Duisburg leitete Anfang des Jahres 2020 konkret ein Prüfverfahren gegen eine Duisburger Polizeibeamtin wegen der vorsätzlichen Körperverletzung im Amt ein. Dieses ist nun abgeschlossen.

Das Ergebnis: Ein strafrechtlich relevanter Vorwurf kann der Polizistin nicht gemacht werden.

Fall Marvin aus Duisburg: Anruferin gab Hinweis nach TV-Sendung „Aktenzeichen XY“

Die Chronologie des bundesweit beachteten Kriminalfalls: Im Sommer 2019 nahm die Duisburger Kripo noch einen Anlauf und bat in der ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY“ um Hinweise aus der Bevölkerung, um den vermissten Marvin doch noch zu finden. Er war im Juni 2017 im Alter von 13 Jahren aus einer Wohngruppe in Oer-Erkenschwick verschwunden.

50 Hinweise gingen während der Ausstrahlung bei der Polizei ein. Darunter auch diese Beobachtung einer Zeugin: Sie berichtete der Polizistin, dass Marvin von einem vorbestraften Mann aus Recklinghausen festgehalten werde.

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Kurios: Die Frau schilderte – so die Darstellung der Polizeibehörden Recklinghausen und Duisburg – Beobachtungen aus einem Zeitraum, in dem der Junge noch gar nicht als vermisst galt. Aber: Der Zeugenhinweis bezog sich eindeutig auf Lars H., bei dem Marvin dann auch Monate später gefunden wurde. Die Ermittlerin ging diesem Hinweis nicht nach – vielleicht auch wegen der nicht passenden Zeitangabe.

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Auf den Vermerk zu diesem Zeugenhinweis stießen später Polizisten aus Recklinghausen, als sie kurz nach der Entdeckung des Jungen die Vermisstenakte durcharbeiteten, die sie aus Duisburg angefordert hatten. Im März 2020 stellte das NRW-Innenministerium in einem Bericht fest, dass eine „ordnungsgemäße kriminalfachliche Bearbeitung des Hinweises“ bereits im Juli 2019 zum Auffinden des Vermissten hätte führen können.

So begründet die Staatsanwaltschaft Duisburg die Einstellung des Prüfverfahrens

Die Staatsanwaltschaft Duisburg begann mit den Vorermittlungen. Die Behörde bestätigt nun auf Nachfrage der Redaktion, dass diese bereits am 30. Mai 2022 eingestellt wurden. „Im Ergebnis ist das strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen die Polizeibeamtin hinsichtlich der fahrlässigen Körperverletzung mangels hinreichenden Tatverdachts und hinsichtlich des sexuellen Missbrauchs mangels Erfüllung eines Straftatbestandes eingestellt worden“, erklärt Sprecherin Isabel Booz.

Die Polizistin habe mit ihrem Vorgehen nicht vorsätzlich gehandelt und habe dementsprechend auch weitere Übergriffe auf Marvin nicht billigend in Kauf genommen, urteilt die Staatsanwaltschaft.

Auch eine fahrlässige Verwirklichung des Tatbestandes der Körperverletzung im Amt durch Unterlassen könne der Polizeibeamtin nach dem Ergebnis der Ermittlungen nicht vorgeworfen werden. Dabei wurden die von Lars H. verübten Vergehen überprüft, die im Verfahren gegen ihn festgestellt worden waren: Eine nachweisbare Tat datiert aus dem Jahr 2018, also vor Übernahme der Vermisstensache durch die Ermittlerin. Eine weitere Tat konnte zeitlich nicht eingegrenzt werden. „Insoweit ist zu Gunsten der Polizeibeamtin davon auszugehen, dass die zeitlich nicht zu konkretisierende Tat vor der Übernahme der Vermisstensache durch sie erfolgte“, so Isabel Booz.

Bereits im Sommer 2019 gab eine Zeugin den Hinweis auf Lars H. aus Recklinghausen. Hier ein Bild aus dem Prozess gegen den Mann.
Bereits im Sommer 2019 gab eine Zeugin den Hinweis auf Lars H. aus Recklinghausen. Hier ein Bild aus dem Prozess gegen den Mann. © FUNKE Foto Services | Fabian Strauch

Da der Polizistin keine vorsätzlich begangene Straftat nachzuweisen gewesen sei, sei nur eine Strafbarkeit des fahrlässigen Missbrauchs – etwa durch Unterlassen – in Betracht gekommen. Aber: Das Strafgesetzbuch stellt den fahrlässigen sexuellen Missbrauch nicht unter Strafe. Somit sei auch eine strafrechtliche Verfolgung durch die Staatsanwaltschaft nicht möglich, so Booz.

Polizei: Internes Disziplinarverfahren ebenfalls eingestellt

Aus juristischer Sicht ist der Fall für die Polizistin damit abgeschlossen. Und auch das interne Disziplinarverfahren stellt die Behörde nach eigenen Angaben „dieser Tage“ ein. Die Polizei hatte mögliche Konsequenzen an den Ausgang des Prüfverfahrens geknüpft. Die Polizistin war nach Bekanntwerden der Vorwürfe im Dienst geblieben.

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Allerdings hatte die Polizei Duisburg bereits vor Jahresende 2019 auf den Vorfall reagiert: Hinweise und Spuren werden seitdem nach einem Vier-Augen-Prinzip geprüft. Außerdem überprüfte die Polizeibehörde alle offenen Verfahren auf ähnliche Fehler.

>> Gericht verurteilte Lars H. zu neun Jahren Haft

  • Im September 2021 verurteilte das Bochumer Landgericht Lars H. zu neun Jahren Haft. Außerdem verhängte es eine anschließende Sicherheitsverwahrung.
  • Die 8. Strafkammer war sich „sehr sicher,“ dass der Mann den anfangs 13-Jährigen „hunderte Male“ missbraucht hat.