Duisburg. Im zerstörten Duisburg ist das Elend 1945 groß. So berichtete ein Amtsblatt über die Lage in der Stadt rund um Weihnachten nach dem Weltkrieg.
Duisburg im Dezember 1945, das ist eine Stadt, die acht Monate zuvor der Hölle des Krieges entronnen ist. Seit dem 12. April ruhen die Waffen. Aber die Folgen des Krieges sind unfassbar. Auch am Ende des Jahres ist das Leben der Menschen alles andere als normal, sind die Straßen von Trümmern gesäumt. Viele Menschen sind obdachlos oder in größter Sorge um ihre Angehörigen. In dieser Situation steht das Weihnachtsfest vor der Tür.
Zeitungen erscheinen keine mehr in Duisburg. Aber es gibt ein zeitungsähnliches Mitteilungsblatt, eine Mischung aus Amtsblatt und Anzeigenblatt. Zum Jahresende beschreibt es die Lage in der Stadt:
Weihnachten in Duisburg 1945: Von 141.000 auf 335.000 Einwohner
Es macht deutlich, wie widrig die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen in Duisburg sind. Und diese werden immer mehr. Waren es bei Kriegsende nur noch 141.000 gegenüber vor dem Krieg 430.000 Einwohnern (ohne die erst 1975 eingemeindeten Stadtteile), so werden im Dezember schon wieder 335.000 Lebensmittelkarten ausgegeben.
Das führt auch schon zur ersten von unzähligen Schwierigkeiten: der Versorgung mit Nahrungsmitteln. Stolz meldet das Mitteilungsblatt, dass die Zuteilung von Brot seit Kriegsende von 6800 Gramm auf 10.000 Gramm pro Person im Monat gesteigert worden sei.
Kartoffeln gab es bei Kriegsende gar keine mehr. Nun werden 8000 Gramm zugeteilt. Bei Fleisch sind es 600 statt 100 Gramm, bei Fett 400 statt 300 Gramm. Vor allem Bergleute erhalten mehr, 22 Prozent mehr Brot und 42 Prozent mehr Fett und Fleisch. Trotzdem konnten nur zwei Zentner Kohle je Haushalt zugeteilt werden. Wer etwas zu tauschen hat, hamstert, begibt sich hinaus aufs Land und erwirbt im Tausch Lebensmittel von den Bauern am Niederrhein.
Von 131.000 Wohnungen waren 42.000 zerstört und 41.000 unbewohnbar
Die zweite große Not betrifft das Dach über dem Kopf. 299 Luftangriffe auf Duisburg hat es gegeben, den letzten am 27. März. Vom 4. März an beschossen die US-Truppen vom linken Rheinufer aus die Stadt zusätzlich mit Artillerie. Das hörte erst um den 8. April herum auf. Am 28. März waren sie ja schon in Hamborn eingerückt.
Von 131.000 Wohnungen vor dem Krieg waren 42.000 total zerstört, 41.000 unbewohnbar, nur 3000 völlig unbeschädigt. Dafür häuften sich in den Straßen 4,7 Millionen Kubikmeter Schutt.
Das Mitteilungsblatt meldet dazu zum Jahresende, vor allem durch freiwillige Helfer (darunter die berühmten „Trümmerfrauen“) seien bislang 75.000 Kubikmeter Schutt beseitigt worden. Bis Anfang Dezember seien über 5000 zivile Wohnungen und fast 1300 Bergarbeiterwohnungen instandgesetzt worden. Baustoffe wie Holz, Zement und Dachziegel werden zugeteilt, Vorrang haben Wohnungen, Krankenhäuser, Lebensmittelbetriebe und Schulen.
Weil es an allem fehlt, kommt das nur langsam voran. Vor allem an Arbeitskräften. 80.000 Männer in den besten Jahren sind von der Wehrmacht eingezogen worden, über 12.000 von ihnen gefallen. Die meisten sind noch in Kriegsgefangenschaft. Noch zehn Jahre später gelten 4500 von ihnen als vermisst.
Die Rheinbrücken sind noch alle zerstört
Und so stehen für Aufräumarbeiten nur 350 Arbeitskräfte, im Baugewerbe immerhin 8800 Männer und im Kanalbau nur 250 Arbeitskräfte zur Verfügung, dazu 70 Mann von der Stadtentwässerung. Dabei haben sie am Jahresende 200 von 750 Schadenstellen im Kanalnetz behoben. Weil sie das Pumpwerk Alte Emscher wieder flott gemacht haben, laufen endlich die Keller in Laar, Meiderich, Beeck, Beeckerwerth und Alsum nicht mehr voller Fäkalwasser. Es könnte die doppelte Zahl an Arbeitskräften gebraucht werden, heißt es.
Wiederaufbau und Versorgung der Menschen setzen Transportmöglichkeiten voraus. Das ist das dritte große Problem in diesem Winter. Bei der Eisenbahn sieht die Sache gar nicht einmal schlecht aus, gemessen an den wieder befahrbaren Strecken. Brückenreparaturen und Behelfsbrücken machen Fahrten nach Oberhausen, von dort nach Ruhrort beziehungsweise Hamborn sowie von Hochfeld nach Mülheim-Speldorf wieder möglich. Noch unterbrochen ist die Strecke nach Mülheim Hbf.
Aber die Rheinbrücken sind noch alle zerstört. Als einzige innerstädtische Brücke ist die Schwanentorbrücke behelfsmäßig befahrbar. Aber die Straßenbahn ist ohnehin auf die Linie von Meiderich bis Dinslaken und von der Innenstadt bis Sittardsberg beschränkt. Denn von 256 Fahrzeugen stehen nur 58 zur Verfügung. Die Hälfte ihrer Werkstätten ist zerstört. Außerdem fehlt es an Lkw und an Treibstoff.
Kraftakt: 590 von vormals 2136 Klassenräumen wieder nutzbar
Da wundert es nicht, dass laut Mitteilungsblatt die Zahl der Schüler an den Schulen nur noch rund 44.000 gegenüber 76.000 vor dem Krieg beträgt. In einem gewaltigen Kraftakt von Lehrern, Schülern, Eltern und Freiwilligen sind immerhin 590 von vormals 2136 Klassenräumen wieder benutzbar.
Es wird in Vormittags- und Nachmittagsschichten unterrichtet. Weil viele der früher 1738 Lehrer in Kriegsgefangenschaft sind oder aus politischen Gründen entlassen, stehen nur 719 Lehrkräfte im Dienst.
Krankenhausbetten der Vorkriegszeit. Arztpraxen sind vielfach zerstört. Dank zehn Not-Apotheken gibt es zwar wieder 30 Apotheken im Stadtgebiet. Aber es fehlt an Medikamenten, auch weil sie so schlecht erreichbar sind.
Dank Schwarzmarkt ein richtiges Weihnachtsessen
Dieter Kaspers, Jahrgang 1937, lebte damals mit seinen Eltern an der Hansastraße in Duissern. Er hat seine Erinnerungen an Weihnachten 1945 aufgeschrieben. Danach hatte die Oma, die offenbar mit im Haushalt wohnte, ein paar Strümpfe geopfert, um ihrer Enkelin Helga eine Puppe zu basteln. Für ihren Enkel Dieter gab es ein hölzernes Kegelspiel. Der hatte sich aber einen Metallbaukasten gewünscht.
Das Fest war gerettet, als ein Freund der Familie, der Wirt vom Duissernplatz, einen kleinen Weihnachtsbaum vorbei brachte. Bei der Bescherung brannten daran immerhin vier Kerzen. Freude machten aber vor allem die zehn Wunderkerzen, die der Vater irgendwoher bekommen hatte.
Kaffeebohnen gab es von der Nachbarin, aber genau abgezählt. Weil die Familie Mehl und Zucker gehortet hatte, konnte Brot gebacken werden. Beim Hamstern hatte die Oma Zucker gegen Speck und ein paar Würstchen eingetauscht. Der Vater hatte auf dem Schwarzmarkt Speiseöl erstanden. Damit gab es ein richtiges Weihnachtsessen: Kartoffelsalat mit Würstchen.
Appell des Oberbürgermeisters: Rückkehr zu alten Tugenden
Dr. Heinrich Weitz, seit 16. April ernannter Oberbürgermeister der Stadt, erlässt am 21. Dezember 1945 einen Weihnachtsaufruf.
„Mitbürger“, heißt es darin. „Das schicksalsschwere Jahr 1945 ist bald vergangen. In Schmach und Schande vollendete sich der Untergang des verruchten Hitlersystems. Zerschlagen ist unser Reich. Hunger und Not, Krankheit und Tod rasen durch die Trümmer unserer Städte und Dörfer. Wir alle in banger Sorge um die Gefahren des Winters die Christglocken läuten. Und doch klingen sie auch für uns tröstlich und hoffnungsfroh. Lasst uns in der Heiligen Nacht den festen Entschluss fassen, zurückzufinden zu den Tugenden, die unsere Väter glücklich und zufrieden gemacht haben: Gottesfurcht, Treue und Redlichkeit, Fleiß und Sparsamkeit, Vaterlands- und Nächstenliebe.“
Weihnachtsfeier im Wartesaal am Hauptbahnhof
Nach Weihnachten berichtet das städtische Mitteilungsblatt von einer besonderen Weihnachtsfeier im Wartesaal der Dritten Klasse des Hauptbahnhofs.
Dorthin sind die Rückkehrer, heimkehrenden Kriegsgefangenen und Obdachlosen gekommen, die in den Bunkern der Stadt einquartiert sind. Die Caritas hat dort mit Hilfe der britischen Besatzungsmacht nicht nur überall Weihnachtsbäume aufgestellt, sondern auch für Gabentische gesorgt. Von ihren Bahren aus konnten die Kriegsversehrten und Kranken dem Krippenspiel auf der provisorisch errichteten Bühne im Wartesaal folgen. Wer wollte, konnte dort anschließend auch die Christmette feiern. Kirchen in der Stadt standen dazu nicht zur Verfügung. Außer in den Außenbezirken waren sie fast alle zerstört. Zu den Teilnehmern gehörten auch Oberbürgermeister Dr. Heinrich Weitz und seine Familie.
Hinweis der Redaktion: Diesen Artikel wollten wir bereits zu Weihnachten 2020, im 65. Jahr nach Kriegsende, veröffentlichen. Als Folge des Hacker-Angriffs auf die Funke Mediengruppe im Dezember 2020 war eine Veröffentlichung im Vorjahr jedoch nicht möglich.