Duisburg. Herausforderung und Bereicherung zugleich: Ein Blick auf 60 Jahre Zuwanderung in Duisburg zum Jahrestag des Anwerbeabkommens mit der Türkei.

Das Anwerbeabkommen mit der Türkei jährt sich am 30. Oktober zum 60. Mal. Ein historisch bedeutsames Datum, denn „es hat in ganz Duisburg Spuren hinterlassen“, sagt Marijo Terzic, der Leiter des Kommunalen Integrationszentrums.

Heute liegt der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund bei rund 44 Prozent in Duisburg, wo allein 33.830 Menschen mit türkischer Staatsangehörigkeit leben. 1970 waren 626.752 Menschen in Duisburg gemeldet, davon 30.044 Ausländer – ein Anteil von 4,79 Prozent. Bis 1974, also nach dem Anwerbestopp, hatte sich der Anteil auf 9,95 Prozent verdoppelt.

Marijo Terzic, der Leiter des Kommunalen Integrationszentrums in Duisburg, sagt, dass die Integration in Duisburg an vielen Stellen gelungen ist. Das Zusammenleben von Menschen sei aber mindestens so komplex wie Astrophysik.
Marijo Terzic, der Leiter des Kommunalen Integrationszentrums in Duisburg, sagt, dass die Integration in Duisburg an vielen Stellen gelungen ist. Das Zusammenleben von Menschen sei aber mindestens so komplex wie Astrophysik. © FUNKE Foto Services | Michael Korte

Vom Rotationsprinzip zum Familiennachzug

Die Stadt Duisburg kümmerte sich anfangs nicht um die neuen Bürger, sah die Unternehmen in der Pflicht. „Über allem stand das Rotationsprinzip“, erinnert Terzic, „man ging davon aus, dass die Gastarbeiter eine Weile bleiben, Kapital ansammeln und wieder zurückgehen“. Aber viele waren gekommen, um zu bleiben: Nach dem Anwerbestopp 1973 wurden die Familien nachgeholt.

[Nichts verpassen, was in Duisburg passiert: Hier für den täglichen Duisburg-Newsletter anmelden.]

Terzic selbst, dessen Eltern aus Kroatien kommend in Süddeutschland ihr Glück suchten, bezeichnet die erste Generation als Wegbereiter, die großen Mut aufbrachten, in ein unbekanntes Land zu ziehen. Der Wunsch, ein besseres Leben zu führen, war Motivation – und damals wie heute „ein Menschenrecht“.

In den 80er Jahren beendete die zweite Generation die Schule, bundesweit nahmen nur 250.000 Türken die Rückkehrprämie der Regierung Kohl an, „spätestens da war klar, dass man Integration steuern muss und sie nicht allein den Unternehmen oder den Wohlfahrtsverbänden überlassen kann“.

Eine Klasse für türkische „Gastarbeiterkinder“ 1971 in Duisburg.
Eine Klasse für türkische „Gastarbeiterkinder“ 1971 in Duisburg. © Stadtarchiv Duisburg | Stadtarchiv Duisburg

„Integration kann man nicht dem Zufall überlassen“

Seither wird diskutiert, wie Integration idealerweise funktionieren kann: Beratungsangebote in der Herkunftssprache etwa, als Brücke zum Ankommen, waren lange umstritten, „sie sind aber bis heute Element der Sozialarbeit“.

Als Hürde bezeichnet Terzic den Flickenteppich aus Verantwortlichkeiten: Aufenthaltsrechtliches klärt der Bund, Bildungsfragen das Land und die soziale Integration soll die bettelarme Kommune stemmen. „In Duisburg haben 44 Prozent der Menschen einen Migrationshintergrund, da kann man Integration nicht dem Zufall überlassen!“, sagt der Experte und betont: „Der riesige wirtschaftliche Gewinn durch die Gastarbeiter, die nach Duisburg kamen, ist unbestritten“, betont Terzic. „Und ohne die heutige Zuwanderung würden ganze Branchen brachliegen.“

Heutige Binnenmigration ist dynamischer

Ist die Integration gelungen? „Wenn man harte Fakten nimmt wie Sprachkenntnisse, Bildung, den sozioökonomischen Aufstieg, dann ergibt sich für sehr viele ein klares Ja“, sagt Terzic. Ob alle auch mit dem Herzen da sind, sei eine andere Frage, sagt er und verweist auf jene, die ihre Rente in der alten Heimat verbringen möchten oder als Pendel-Migranten das Beste aus beiden Welten zu vereinen suchen. Natürlich hat nicht zuletzt die Corona-Pandemie gezeigt, dass Menschen mit Migrationshintergrund benachteiligt sind und auch beim friedlichen Miteinander noch Luft nach oben ist.

Bei der modernen Migration gebe es neue Herausforderungen: Etwa ein Drittel wolle dauerhaft bleiben, ein weiteres Drittel bleibe eine Weile und ziehe dann weiter und ein Drittel sei lediglich kurz vor Ort. In den 60er Jahren sei vieles rational und funktional gewesen: billige Unterkünfte und das Ziel, in kurzer Zeit möglichst viel Geld zu sparen. Die heutige EU-Binnenmigration sei viel dynamischer, durch prekäre Arbeitsverhältnisse zu schnelleren Wechseln getrieben.

„60 Jahre sind menschheitsgeschichtlich ein Klacks“

Die Rahmenbedingungen für eine Willkommenskultur könne der Staat schaffen, aber um Verstand und Herz zu erreichen, brauche es jeden einzelnen. „Das Thema ist hochumstritten, bringt die Gemüter in Wallung“, sagt Terzic. Dabei sei es ebenso hoch komplex wie Astrophysik, nur dass bei Letzterer nicht jeder mitredet.

Dass Menschen mit „fremdländisch“ klingenden Namen Nachteile bei der Job- oder Wohnungssuche haben, werde bald Geschichte sein, hofft er. Polnische Namen seien in den 50er Jahren skeptisch betrachtet worden und heute völlig normal. Und Duisburger Gastwirte, die 1955 Schilder an der Tür hatten, mit denen sie Italienern den Zutritt verboten, würden heute Cappuccino servieren. „Diese schlimmste Form von Apartheid hat sich ausgeschlichen, heute lieben wir sie.“ 60 Jahre seien menschheitsgeschichtlich jedenfalls ein Klacks.

Auch interessant

Eine Kopftuch tragende Frau werde selbst mit Hochschulabschluss nicht als integriert wahrgenommen. Da sei der Weg noch weit hin zu einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft, bedauert Terzic. Er wünscht sich zum 60. Jahrestag „ein bisschen pathetisch vielleicht, aber wichtig: Ein Zusammenrücken, eine Neugierde aufeinander, ein Füreinander einstehen“. Durch Globalisierung und Klimakrise seien viele Menschen verunsichert. Integration brauche jedoch Leichtigkeit – in der Debatte und im Umgang miteinander. „Wir alle sind Duisburger, egal woher wir kommen und egal warum wir gekommen sind.“

>> ZUWANDERERQUARTIERE IN DUISBURG

• Marxloh und Hochfeld haben ähnlich wie Chinatown oder Little Italy eine wichtige Funktion als Ankomm-Quartiere, als „Arrival Citys“, sagt Marijo Terzic. Durch Infrastrukturen in Herkunftssprachen könnten sie wie ein Katalysator wirken, bei der Orientierung helfen. Wichtig sei nur, dass die Menschen irgendwann den Absprung schaffen.

Marxloh und Hochfeld würden unterschätzt, sie seien eminent wichtig. „Begriffe wie „Parallelgesellschaften“ bringen die Stadtteile zu Unrecht in Misskredit.