Duisburg. Die Zahl der Schüler, die akut in der Kinder- und Jugendpsychiatrie behandelt werden müssen, hat sich in der Corona-Pandemie verdoppelt.

Wie stark die Corona-Pandemie Kinder und Jugendliche belastet, sieht Markus Steinhoff täglich: Der Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Bertha-Krankenhaus in Duisburg muss sich viel häufiger als sonst um Notfälle kümmern.

An manchen Tage stehen drei oder vier Patientinnen oder Patienten im Schulalter vor ihm. Sie plagen Ängste, haben Konflikte mit Eltern, Lehrern, Mitschülern, fühlen sich krank oder gestresst und kommen aus diesem Modus alleine nicht heraus. Viele schaffen es, eines der Hilfsangebote anzunehmen, manche versuchen, sich das Leben zu nehmen. Steinhoff nimmt nicht jede und jeden auf, dafür gibt es auch gar keine Kapazitäten. Weder räumlich noch personell: Aktuell haben die Sana Kliniken als Betreiber drei Stellen für Therapeutinnen und Therapeuten ausgeschrieben.

150 Akutfälle in den ersten Monaten

2019 und 2020 habe es im Schnitt je 200 akute Vorstellungen gegeben, sagt Pressesprecherin Ute Kozber, etwa 60 Prozent bleiben stationär. Jetzt waren es allein bis Mai schon 150 Akutfälle, von denen knapp 80 stationär aufgenommen wurden – doppelt so viele wie im Vergleichszeitraum. Nach der Diagnostik dauere es im Schnitt zwölf bis 14 Wochen, bis aus einem jungen Patienten wieder ein stabiles Wesen erwachse, sagt Markus Steinhoff. „Gäbe es mehr Plätze, könnten wir frühzeitiger reagieren.“

Derzeit liege die Wartezeit für eine ambulante Therapie bei sechs Monaten, stationäre Therapien werden nach zwei bis drei Monaten Wartezeit angegangen, die Zeit bis dahin mit ambulanten Angeboten überbrückt.

Im Altbau des Bertha-Krankenhauses ist die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Sana Kliniken untergebracht. Vor zwei Jahren wurde der Standort in Duisburg-Friemersheim um den Neubau (im Hintergrund) für die Kinder- und Jugend-Psychiatrie ergänzt.
Im Altbau des Bertha-Krankenhauses ist die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Sana Kliniken untergebracht. Vor zwei Jahren wurde der Standort in Duisburg-Friemersheim um den Neubau (im Hintergrund) für die Kinder- und Jugend-Psychiatrie ergänzt. © FUNKE Foto Services | Tanja Pickartz

Schüler fühlen sich überfordert

Kinder und Jugendliche, die stationär aufgenommen werden, leiden an Depressionen und Psychosen, bei kleineren Kindern sind es oft auch Anpassungsprobleme im Kontext besonderer Familien-Situationen, etwa bei Trennungen.

Die Jugendlichen seien vielfach emotional überfordert, sagt Steinhoff. Im Zusammenhang mit Schule hätten sie mit Selbstwertthemen zu kämpfen. Manches Kind könne seine Leistungen überhaupt nicht einschätzen, wisse kurz vor den Sommerferien nicht, wo es stehe und habe Angst vor der Beurteilung durch die Lehrer. „Was kann ich?“ - diese Frage könnten sie nicht beantworten, ihr Bild von sich selbst sei verschoben. Leistungseinbußen und fehlende Motivation würden zu einem Teufelskreis führen, der sich in nächtlichen Grübeleien und Schlaflosigkeit niederschlage.

Ist das noch pubertär oder schon pathologisch?

Eine große Rolle spielen bei den pubertierenden Betroffenen die Hormone, sagt Steinhoff. „Sie lenken Emotionen und verschärfen sie. Wenn man sich schlecht fühlt, kommt noch Aggression hinzu“, nennt er ein Beispiel.

Für Eltern sei manchmal schwer zu unterscheiden, ob das Verhalten des eigenen Kindes noch pubertär oder schon pathologisch ist. „Meine Tochter hat in dem Alter auch mal am Rad gedreht“, verdeutlicht Steinhoff, in Maßen ist das eben alterstypisch. Und immerhin hat auch sie ihr Abi gemacht, studiert jetzt Psychologie.

Ein Fall für die Kinder- und Jugendpsychiatrie wird es bei „komplexen Überforderungen, die sich in Zerstörungswut im häuslichen Umfeld, Aggressionen gegen Familienmitglieder, Bedrohungssituationen bis hin zur Suizidalität zeigen“, beschreibt Steinhoff. Manche Kinder kommen nach Hinweisen aus der Schule zu ihm, manche werden sogar von der Polizei gebracht.

„Wir sehen alle und müssen dann entscheiden, welcher Weg der beste für sie ist“, sagt der Facharzt. „Wir sind 24/7 erreichbar.“ Bei manchen Jugendlichen sei eine mehrtägige Krisen-Intervention sinnvoll, um sie emotional zu stabilisieren. „Medikamente werden so selten wie möglich eingesetzt, sind aber bei Depressionen, Psychosen und Aufmerksamkeitsstörungen oft nicht zu umgehen“, betont Steinhoff. Wichtiger sei es, mit den jungen Patienten und ihren Eltern zu arbeiten, langfristig wieder Vertrauen zu entwickeln.

Mangel an sozialen Kontakten in der Pandemie

Viele Kinder würden an einem Mangel an sozialen Kontakten leiden. Durch Corona sei dieses Problem verschärft worden. „Die Kinder verstecken sich hinter ihren Masken“, so Steinhoff. Video-Formate, wie sie im Distanzunterricht genutzt wurden, seien nur eine Schein-Interaktion, für die Entwicklung der Persönlichkeit sei echte Interaktion wichtig. „Die Jugendlichen wurden in ihrer Persönlichkeitsentwicklung stark eingeschränkt. Ihnen wurde ein ganzes Jahr geklaut.“

Auch die Kommunikation per Handy sei kein ausreichender Ersatz: „Das ist unpersönlich, anonym, ich kann lange überlegen, bis ich antworte“, beschreibt Steinhoff. Viele bedrängende Gedanken seien im Familien- oder Freundeskreis gut zu begleiten. Corona habe diesen Austausch verhindert, Ablenkungsmöglichkeiten vereitelt. Steinhoff empfiehlt, besonders achtsam zu werden, wenn man bei einem Kind einen sozialen Rückzug beobachtet.

Facharzt fordert mehr Kontinuität im Schulbetrieb

Wichtig für den jetzt wieder angelaufenen Normalbetrieb an Schulen sei die Kontinuität. Die ständigen kurzfristigen Änderungen hätten nicht gerade für seelische Stabilität gesorgt. Auch jetzt fürchtet Steinhoff noch eine Zunahme der Nachfrage.

Viele Schüler haben unter der Unterrichts-Reduktion gelitten. Ihnen fehlte die Motivation, allein weiter zu machen, „vor allem fehlte ihnen nach erbrachten Leistungen die Rückmeldung, die war katastrophal“, rüffelt der Therapeut so manchen Lehrer. Immerhin gab es verantwortungsvolle Lehrer, die ein gutes Gespür für emotionale Konflikte haben, die sich prophylaktisch von ihm beraten lassen oder dafür sorgen, dass Kinder im Bertha-Krankenhaus gehört werden.

Einzig positiver Effekt der Corona-Pandemie sei, dass die Klinik weniger Patienten wegen Drogenkonsums behandeln musste, „die wenigsten konsumieren allein und gemeinsam ging das nur eingeschränkt“.

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