Duisburg. Der Direktor und Chefchoreograph des Balletts am Rhein hinterlässt große Spuren in Duisburg und Düsseldorf. In Wien lockt das „belebende Risiko“.

Das Filmporträt von Martin Schläpfer, das 2016 auch ins Kino kam, trägt den Titel „Feuer bewahren – nicht Asche anbeten“. So zitiert er den Komponisten Gustav Mahler im Gespräch mit Regisseurin Annette von Wangenheim. Dass der Direktor und Chefchoreograph des Balletts am Rhein jetzt dem Ruf ans Staatsballett nach Wien folgt, passt zu diesem Künstler, der sich nicht der Gefahr aussetzen möchte, in Routine zu verfallen und „bequem zu werden“. Mit 60 habe er die Energie „für einen letzten Wechsel“, sagt er im Abschiedsgespräch.

In Duisburg hinterlässt Martin Schläpfer auch ausverkaufte Vorstellungen

Dass er in Wien eine der größten Ballettcompagnien der Welt leiten wird, begrüßt er als „belebendes Risiko“. Am Rhein lässt der 60-Jährige viel zurück. Ein Publikum, das ihn verehrt und volle Häuser auch in Duisburg; Preise, die für die hohe Wertschätzung seiner Arbeit sprechen; eine Compagnie, die in elf Jahren viermal von Kritikern zur „Compagnie des Jahres“ gewählt wurde.

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Aber auch das neue Balletthaus, das er mit Nachdruck durchgesetzt hat, ist sozusagen sein Stein gewordenes Verdienst. Der Neubau sei ein langfristiges Bekenntnis Düsseldorfs zur Sparte gewesen, sagt der Schweizer, der aus Mainz an den Rhein gekommen war. „Ich habe das Gefühl, etwas zu hinterlassen, was richtig ist.“

Ballettabende mit Spitzentanz und Gummistiefeln

Zur Schläpfers künstlerischer Handschrift gehört, dass in seiner Compagnie nicht Gleichmaß zählt, sondern Individualität. Die Tänzer haben meist athletisch geformte Körper, die explosiv, aber auch bis an den Rand der Bewegungslosigkeit agieren können. Und noch dabei eine ungeheure Intensität und Energie versprühen. Seine Primaballerina Marlúcia do Amaral ist eine kleine, sehr muskulöse, ungeheuer ausdrucksstarke Tänzerin, die die nachdenklichen, dunklen Seiten in Schläpfers Choreographien auf der Bühne verkörpert. Auf Spitzenschuhen, die oft wie schmerzhafte Schläge in den Boden gerammt werden. Der Spitzentanz gehört für Schläpfer zur bewahrenswerten klassischen Ballettkunst, er zieht sie auch männlichen Tänzern an.

Die Tänzerin Marlúcia do Amaral in Martin Schläpfers „Ramifications“ bei der Verleihung des Deutschen Tanzpreises 2019 im Essener Aalto-Theater.
Die Tänzerin Marlúcia do Amaral in Martin Schläpfers „Ramifications“ bei der Verleihung des Deutschen Tanzpreises 2019 im Essener Aalto-Theater. © FUNKE Foto Services | Julia Tillmann

Das andere Extrem sind die bäuerlich-bodenständigen Gummistiefel, die bei seinem „Forellenquintett“ zum Einsatz kommen. Es ist die wohl heiterste Choreographie des Schweizers, der seine Stücke auch mit Ironie und hintersinnigem Humor würzen kann. Lieber aber widmet er sich Fragen der menschlichen Existenz – Trauer und Einsamkeit, Schmerz und Verzweiflung. Das spiegeln auch seine Ballettmusiken wider, die von Bach über Brahms und Mahler bis Adriana Hölszky reichen.

Meilensteine der Ballettgeschichte und Zeitgenössisches

Am Rhein hat Schläpfer ein riesiges Repertoire aufgebaut, waren doch die meisten Ballettabende dreiteilig, und dabei hat er sowohl Meilensteine der Ballettgeschichte aus Neoklassik und früher Moderne aufs Programm gesetzt als auch zeitgenössische Choreographen eingeladen. Handlungsballette hingegen haben Schläpfer weniger gereizt, den „Schwanensee“ hat er erst gegen Ende seiner Amtszeit choreographiert. Seine Form sei eher die kurze, das Gedicht, nicht der lange Roman, hat er mal gesagt.

Wie Gedichte, die mit ihren Bildern viel Raum lassen für die eigene Fantasie und manchmal auch rätselhaft bleiben, sind manche seiner Choreographien. Nicht immer kann jeder Schläpfers Gedanken folgen. Das bedeutet aber nicht weniger Spannung. Kunst heißt ja auch, nicht alles rational nachvollziehen zu können. Schläpfer-Abende waren immer auch eine Herausforderung an die mentale Kondition, kraftvoll und energiegeladen, lang nachwirkend.

Düsseldorf und Duisburg als „bereicherndes Spannungsfeld“

https://www.waz.de/staedte/duesseldorf/martin-schlaepfers-letzte-produktion-ist-gestrichen-id228937445.html„Es war eine tolle Zeit, ich gehe voller Dankbarkeit“, sagt Schläpfer. Das Spannungsfeld zwischen Düsseldorf und Duisburg habe er als „wunderbar bereichernd“ erlebt. Bedauerlich, dass der Abschied mit einer Festwoche und der Abschluss-Gala am 24. Juni ausfallen muss. Schmerzlich sei es „vor allem für die Tänzer“, diese Zeit nicht mit einem Fest beenden zu können.

Martin Schläpfer besuchte mit Tänzern das Hildegardis-Gymnasium in Duisburg.
Martin Schläpfer besuchte mit Tänzern das Hildegardis-Gymnasium in Duisburg. © FUNKE Foto Services | Stephan Eickershoff

Im „Kosmos Wien“, wie er die „wunderbar widersprüchliche Kunst- und Kulturmetropole nennt“, leitet er eine über 100-köpfige Compagnie, die an der Volks- und der Staatsoper tanzt. Eine große, schwierige Aufgabe. Schläpfer ist sicher: „Ich kann mir als Künstler treu bleiben.“ Mit Mahlers 4. Sinfonie wird er sich an der Donau vorstellen. In der Geschichte des Balletts am Rhein hinterlässt Martin Schläpfer große Spuren.

Demis Volpi stellt sein erstes Programm vor

Martin Schläpfers junger Nachfolger Demis Volpi stellt am 24. Juni sein erstes Programm für das Ballett am Rhein vor, es ist wegen Corona zunächst bis Ende 2020 geplant. Der 33-Jährige wurde in Argentinien geboren.

Er kam 2004 ans Stuttgarter Ballett. Dort hat er Handlungsballette wie „Krabat“ (2013), „Die Geschichte vom Soldaten“ oder „Salome“ choreographiert, aber auch die Britten-Oper „Der Tod in Venedig“ inszeniert.