Duisburg. Anja leidet am Messie-Syndrom. Zwanghaft hortet sie Gegenstände. Das äußerliche Chaos ist Ausdruck ihrer seelischen Welt:

Anja* lebt im Chaos. Überall stehen Kisten, Körbe mit Bügelwäsche, Kartons und Krimskrams. Ihre 68 Quadratmeter große Wohnung ist zugestellt. Nur wie in einem Labyrinth bahnt sie sich den Weg durch ihre eigenen vier Wände, in denen sie kaum noch Platz zum Leben findet. Zwanghaft hortet sie alles. Anja leidet am Messie-Syndrom.

„Auf der Couch kann ich momentan sitzen. Das ist auch nicht immer der Fall“, sagt die gebürtige Duisburgerin. Ein kleiner Bereich der Sitzfläche ist freigeräumt, links und rechts türmen sich Kleidung, Kissen und anderes Zeug. Sie hat schon Zeiten in ihrer Wohnung erlebt, „da konnte ich kaum einen Fuß vor den anderen setzen“.

Messies können nur schwer Entscheidungen treffen

Ein Einblick in die Wohnung von Anja. Sie leidet am Messie-Syndrom. Viele Bereiche der Wohnung sind zugestellt mit Kisten, Kartons und Regalen. 
Ein Einblick in die Wohnung von Anja. Sie leidet am Messie-Syndrom. Viele Bereiche der Wohnung sind zugestellt mit Kisten, Kartons und Regalen.  © Anja | ANJA

Zeug, so despektierlich würde Anja die Gegenstände in ihrer Wohnung niemals bezeichnen. Alles hat eine Geschichte. Ganz alltäglichen Dingen wird ein besonderer Wert beigemessen. Personen mit dem Messie-Syndrom leiden oft an einer „Wertbeimessungsstörung“.

Ist die Sache wichtig oder nicht? Messies können diese Entscheidung nur schwer treffen. Sie können nicht loslassen. „Viele Dinge sind mit Erinnerungen verknüpft, und wenn ich sie nicht aufheben würde, würde ich alles vergessen“, glaubt Anja.

Die Geschichte hinter den Gegenständen bleibt

Heute ist sie Ende 40. Aufgewachsen ist Anja in Duisburg-Rheinhausen. Beim Rundgang durch ihre Wohnung verfällt Anja immer wieder in Erinnerungen. Ansichtskarten, die schon im Kinderzimmer an ihrer Wand hingen. Einige Gegenstände erinnern an die verstorbene Mutter. So wie etwa eine alte Trockenhaube. Regelmäßig saß Mama darunter, Anja als kleines Mädchen auf der Fußbank daneben. „Sie bedeutet mir was“, auch wenn die Trockenhaube schon lange nicht mehr funktioniert – die Geschichte hinter dem Gegenstand bleibt. Sperrmüll: tabu.

„Niemals könnte ich einen Brief wegwerfen“, sagt Anja. Und sie zählt die Briefe ihrer Oma auf, datiert im Kopf genau die Jahre zurück. „Einen habe ich 1986 bekommen...“, sagt sie. „Was mir einmal was bedeutet hat, das vergesse ich nie wieder.“ Wo aber das Paket mit all den geschriebenen Zeilen aus der Vergangenheit ist, das weiß sie nicht. Mit dem Chaos in der Wohnung hat sie den Überblick verloren.

Papiere, Quittungen und ein Teddybär

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Woher die Störung kommt, das weiß Anja nicht. Aber schon früh beginnen die Verlustängste. Mit neun Jahren verschenkte sie einen selbstgehäkelten Teddybären, und erst danach merkte sie, wie wichtig er ihr war. „Ich habe nur noch geheult.“ Ihre Mutter schaffte es schließlich, den Teddy zurückzuholen.

Anja hat Angst, versehentlich etwas zu entsorgen, was ihr im Nachhinein das Herz brechen könnte. So wie damals mit dem Teddy. „Ich gebe nichts mehr aus der Hand.“ Keine Papiere, keine Quittungen. Alles bleibt.

Der lange Kampf gegen das Tohuwabohu

Das Messie-Syndrom in den Medien

Psychologen bezeichnen Menschen wie Anja als Messies – eine Krankheit, die vom englischen „mess“, also Chaos, abgeleitet wird. Der genaue Wohnort von Anja bleibt geheim. Zu groß ist die Sorge, der Vermieter könne aufgrund der Unordnung in der Wohnung falsche Schlüsse ziehen. Denn verdreckt ist die Wohnung von Anja nicht, nur völlig überladen.

„Nichts vermodert, verschimmelt. Es gibt kein Ungeziefer“, sagt Anja. In vielen TV-Dokus über Messies entstehe aber eben dieses Bild. In vielen Fällen, so Anja, wird über das „Vermüllungssyndrom“ berichtet, das deutlich seltener auftritt und eine extreme Form des Messie-Syndroms darstellt. Die Berichterstattung lasse so ein verzerrtes Bild über Betroffene entstehen.

„Es stört mich sehr“, sagt Anja über das heimische Tohuwabohu. Schon oft stand sie mit guten Vorsätzen vor den Kleiderbergen und Kisten. Genauso häufig hat sie die Pläne wieder verworfen. Denn es dauert nicht lange, dann wächst ihr alles über den Kopf.

„Letztlich bin ich einfach völlig überfordert von Dingen des Alltags.“ Rastlos und verzweifelt rennt sie dann von einem Zimmer in das nächste, ohne zu wissen, wo und wie sie überhaupt anfangen soll. „Alles erscheint unüberwindlich. Ich bräuchte Jahre um aufzuräumen.“

Horten gegen die Leere und Einsamkeit

„Das Messie-Syndrom hat man nie alleine“, weiß sie, denn es kommen oft mehrere Störungen zusammen, etwa noch Depressionen, Entwicklungstraumata oder ADHS. Auch Anja hat ihre Päckchen zu tragen. Im Schlafzimmer hat sie die zweite Betthälfte mit Kartons zugestellt. „Vermutlich kann ich es nicht ertragen, dass da keiner liegt.“

Mit ihrem Leben ist sie „chronisch unglücklich“, sagt die gebürtige Duisburgerin. Ihre Mutter ist verstorben und hat eine Lücke hinterlassen, ihr Kinderwunsch bleibt unerfüllt, Freunde hat sie wenige. „Wenn alles aufgeräumt ist, spüre ich mehr die Leere und Einsamkeit.“

Das Chaos in der Wohnung ist das eigene Gefängnis

Mit der Unordnung wird die Einsamkeit äußerlich mit gesammelten Erinnerungen zugedeckt. „Ich habe mir mein eigenes Gefängnis innerhalb der Wohnung gebaut.“ Unterstützung bekommt sie in einer Selbsthilfegruppe für Messies. Es ist ein erster Schritt raus aus dem Chaos. Auch im Internet bei Facebook gibt es etwa Gruppen, in denen sich Betroffene austauschen. Dort formuliert sie ihren Leidensdruck. Anja macht auch eine Therapie. So sollen ihre seelischen Schmerzen heilen. Denn will sie das Messie-Syndrom in den Griff bekommen, „muss die Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit erfüllt werden.“

* Vollständiger Name der Redaktion bekannt.