Bochum. . Verrückt sind eigentlich nicht die Messies – sie sind eher die, die versuchen, normal zu reagieren. Findet ein Betroffener - hier sein Bericht.

Ich bin ein Messie. Neben meinem Schreibtisch stapeln sich Fehldrucke und Reklame-Zettel – die Rückseiten kann man ja als Notizzettel benutzen. Auf dem Küchenschrank türmen sich gespülte Senfgläser: Kann man ja weitergeben an Leute, die Marmelade kochen. Überall Stapel mit Prospekten, Zeitschriften, Büchern. Muss ich alle noch durchblättern, um keinen guten Text, keine wichtige Information zu verpassen.

Natürlich habe ich schon viel über das Messie-Syndrom gelesen, gesehen und gehört. Ich habe zum Beispiel mal eine Reportage gesehen mit einem Messie, der hatte in seiner Wohnung nur noch dunkle, schmale Fußwege zwischen Stapeln, die bis an die Decke reichten. Bei mir ist es nicht so. Ich bewahre keine Yoghurt-Becher auf. Die Zeitungsstapel gehen höchstens bis zur Wade. Auch Plastikflaschen finden bei mir den Weg zur Gelben Tonne. Obwohl, auf dem Balkon habe ich zwei stehen, die ich besonders hübsch fand. Vielleicht kann man die ja mal gebrauchen für Dünger oder so. Aber es ist nicht düster vor lauter Dingen in meiner Wohnung und neulich erst habe ich einen Freund zum Essen eingeladen, sowas geht noch.

Mittelschwerer Fall

Also ich bin ein mittelschwerer Fall, würde ich sagen. Es findet sich in meiner Wohnung zum Beispiel ein Gesundheitsmagazin von vor zwei Jahren. Da steht was über Schmerzmittel drin, das wollte ich unbedingt jemandem geben, der damit Probleme hat. Und in einem Hochglanzmagazin sind so irre schöne Naturfotos drin, die könnte man doch zumindest als Geschenkpapier nutzen, viel zu schade zum Wegwerfen. In den Bücherstapeln finden sich auch mehrere Bücher mit Tipps zum Entrümpeln: Die sind natürlich besonders wichtig für mich.

Wer will das noch alles lesen - und vor allem: wann? Trotzdem wird nichts weggeworfen, sondern gehortet und gestapelt.
Wer will das noch alles lesen - und vor allem: wann? Trotzdem wird nichts weggeworfen, sondern gehortet und gestapelt. © Casanowe

Klar, wenn ich darüber nachdenke, weiß ich, dass es Unsinn ist, das ganze Zeugs aufzubewahren. Dass der Verlust an Lebensqualität viel schwerer wiegt als das, was die ganzen Sachen mal nützen könnten. Dass ich, wollte ich all die Magazine, Bücher, Zeitungsschnipsel lesen, Jahrzehnte bräuchte – vorausgesetzt, ich treffe in diesen Jahrzehnten nie wieder Freunde, gehe nie wieder einen Schritt vor die Tür und esse nie wieder was. Sonst bräuchte ich vermutlich sogar doppelt so lang. Und wo soll dann noch die Zeit herkommen, um all die Filme zu sehen, Museen zu besuchen, Bücher zu lesen, die in den Texten, die sich bei mir stapeln, empfohlen werden? Und überhaupt, wozu noch Papier, wenn man heute alle möglichen Infos und Texte im Netz findet? Neulich hab ich zwar im Internet einen ganz bestimmten Text gesucht und nicht gefunden. Aber zwischen meinen Stapeln zuhause hätte ich ihn erst recht nicht gefunden.

Ballast für die Seele

Eindeutig, der Ballast, der sich in der Wohnung türmt, ist Ballast für die Seele. Warum tut man sich das an? Dazu gibt es alle möglichen Theorien und Deutungen, und mit ein bisschen Plastik-Philosophie kann man sich selbst ein paar Erklärungen basteln: Das Chaos in der Wohnung spiegelt das Chaos im Kopf. Die post-postmoderne Multi-Options-Gesellschaft in ausdifferenzierten, kapitalistischen Industrieländern spuckt im Sekundentakt Produkte aus, produziert Bedürfnisse, weckt Interessen und Möglichkeiten. Der Kopf ist voll, die Wohnung auch. Der Mensch ist überfordert und mit ihm sein Zimmer.

Wenn alles so klar ist und ich das durchschaut habe, warum habe ich dann trotzdem Probleme, die alte Zahnbürste wegzuwerfen, die man ja noch verwenden könnte, um Dreck von Schuhen zu bürsten? Schließlich habe ich mittlerweile so viele alte Zahnbürsten gesammelt, dass ich einen Schuhladen damit putzen könnte.

Mit ihren Aufräumregeln „Konmari“ – zum Beispiel nach Kategorien, nicht nach Räumen – ist die Japanerin Marie Kondo (34, „Magic Cleaning“) zur Bestsellerautorin und Klarschiff-Ikone avanciert.
Mit ihren Aufräumregeln „Konmari“ – zum Beispiel nach Kategorien, nicht nach Räumen – ist die Japanerin Marie Kondo (34, „Magic Cleaning“) zur Bestsellerautorin und Klarschiff-Ikone avanciert. © dpa Picture-Alliance / Seth Wenig

Das Messie-Syndrom als irrationale Zwangshandlung, pathologische Sucht, neurotische Krankheit: Auch darüber sind Bücher geschrieben worden. Es beschäftigt Scharen von Psychologen und Therapeuten. Im Dienstleistungssektor entstand längst ein Markt mit Aufräum-Helfern. Denn das Messie-Syndrom ohne Hilfe zu bekämpfen ist schwer. Der Zwang zu sammeln, entzieht sich dem Willen. Man könnte auch sagen, das Ganze ist übernatürlich. Schließlich gibt es da diesen Spruch, den ein böser Zauberer in den Kopf gezaubert zu haben scheint: „Vielleicht kann man das mal gebrauchen.“ Den wird man nicht los.

Was ihn so tückisch macht: Er stimmt. Natürlich könnte man die Jacke mit den zerriebenen Ärmeln und den fehlenden Knöpfen zu Putzlappen schneiden. Aber aus all den alten Klamotten Putzlappen schneiden: Das würden so viele Putzlappen, dass man ein Jahr lang die Küche jeden Tag mit nie benutzten Putztüchern putzen könnte. Deshalb kann ich nur lachen, wenn in irgendeinem Magazin zum Beispiel steht, wie man aus Wegwerfflaschen dekorative Zeitungshalter macht – unter dem Titel: „Der Umwelt zuliebe“. Ich stelle mir dann vor, wo all die Millionen Zeitungshalter hin sollen aus den Millionen Plastikflaschen, die jeden Tag in der Welt leergetrunken werden.

Ein Planet im Verschwendungswahn

Ich habe eine Vermutung: Der Zauberer mit dem Spruch ist nicht böse. Er will uns was zeigen: In was für einem Wahnsinn wir eigentlich mit unserer Wegwerfkultur leben. Es ist normal, ein Kartenspiel in einer Metalldose zu verkaufen, die in einer Plastikschale steckt, die in einem Pappkarton eingefasst ist, der in Folie eingeschweißt wurde. Man baut Rohstoffe in Monokulturen an, bringt sie in Fabriken, wo Schachteln entstehen, die um die halbe Welt transportiert werden, die wir vom Supermarkt nach Hause tragen, um sie nach einem Tag wieder wegzuwerfen. In Massen, jeden Tag. Ein Planet im Verschwendungswahn – der sich als normal tarnt.

Verrückt sind eigentlich nicht die Messies – sie sind eher die, die versuchen, normal zu reagieren. Denn es sind wertvolle Rohstoffe, mit denen wir jeden Tag die Mülltonnen füttern – das ist krank. Messies dagegen scheinen stumm zu appellieren: Nicht wegwerfen, das ist wertvoll. Ein hilfloser Versuch.

Isolation gegen Ignoranz

Natürlich können Messies nicht die weltweit verschleuderten Rohstoffe in ihre Mietwohnungen hineinretten. Und dass Messies leiden, sich quälen bis zur sozialen Isolation, dass sie Hilfe brauchen, soll nicht in Abrede gestellt werden.

Aber die Gesellschaft muss sich Ignoranz und Arroganz vorwerfen lassen, wenn sie nicht imstande ist, aus dem Leidensdruck der Messies etwas über den eigenen Wahnsinn zu lernen.

Zum Glück wächst das Bewusstsein, Rohstoffe zu schonen. Es gibt die ersten Läden ohne Verpackungen. Viele Supermärkte verkaufen keine Plastiktüten mehr. Immerhin. Aber wer einem Messie Lifestyle-Tipps gibt à la „Weg damit!“ oder „So räumen Sie auf“, sollte erstmal prüfen, ob man im eigenen Lebensstil begriffen hat, worauf es ankommt: Nicht nur zu lernen, wie man wegwirft. Sondern zu lernen, wie das, was man wegwirft, gar nicht erst entsteht.

Dann geht irgendwann vielleicht auch der Zauberer zufrieden lächelnd ins Bett.