Bochum. Bochumer mit einer Messie-Störung treffen sich regelmäßig. Ihre Leben sind voller Chaos. Sie helfen sich beim Aufräumen – mental und real.

Wenn Gisela etwas nicht leiden kann, dann die reißerische Darstellung ihres Problems in den Medien: „Wohnungen von Messies sind da bis an die Decke zugemüllt, Ratten müssen dabei sein“, sagt sie verärgert und stellt klar: „Das sind extreme Fälle.“

Mit viel Leid verbunden

Bei der 61-Jährigen fing es schleichend an: Am Anfang stand das Gefühl, den Haushalt nicht auf die Reihe zu kriegen, die Schränke wurden unordentlicher. Erst später schämte sie sich für die eigene Wohnung, hatte Schwierigkeiten, sich von Zeitungsaltpapier zu trennen. Nach einem Messie-Kongress in Essen entschloss sich Gisela 1998 zur Gründung der Gruppe. „Es ist leichter, wenn das Problem einen Namen hat“, findet sie. Das denkt auch Ulla, die 2007 dazukam. Da hatten die Nachbarn schon geraunt: „Schaut euch mal das Grundstück da an.“ Ulla hat sich geschämt: „Die Störung ist mit viel Leid verbunden.“

W'ohlfühlverhalten völlig unterschritten

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Sie war nach der Trennung von ihrem Mann plötzlich mit drei Kindern alleinerziehend, verlor soziale Kontakte und stand vor einem Berg an Aufgaben. Der Haushalt der Büroangestellten blieb zuerst auf der Strecke. „Bei jedem ist es mal unordentlich, aber ein Wohlfühllevel war völlig unterschritten“, sagt sie.

Wenn Besuch kam, habe sie einen Putzeimer in den Flur gestellt, oder erzählt, sie renoviere gerade. Auch Gisela erfand Ausreden: „Ich habe Türklingeln überhört“, sagt sie. Problemursachen finden die Gruppenmitglieder schon in der Kindheit: „Ich durfte nie sein, wie ich bin und wurde oft kritisiert“, erinnert sich Ulla.

Zwischenzeitlich mehr als zehn Personen

Die Gruppe, die zwischenzeitlich aus mehr als zehn Personen besteht, hilft sich vielfältig: In wöchentlichen Sitzungen befassen sich die Teilnehmer mit dem seelischen Chaos und arbeiten zu Themen wie Scham, Selbstakzeptanz und Motivation. „Dabei kommt eine Flipchart zum Einsatz, an der wir Konzepte erarbeiten“, sagt Gisela. Das Chaos im Haushalt bewerkstelligt die Gruppe ebenfalls gemeinsam: „Wir treffen uns und sind füreinander eine Aufräumhilfe“, so Gisela. Aktuell führe sie eine „Kleiderschrankdiät“ durch – mit einer Freundin fragt sie bei jedem Kleidungsstück: „Kann das weg?“.

„Notfallkoffer“ ist gepackt

Sich von Gegenständen zu trennen, ist für Gisela ein Problem: Aktuell bewahrt sie Pappschachteln auf, weil der Gedanke sie nicht loslässt, dass Kindergartenkinder damit noch basteln könnten. In der Selbsthilfegruppe hat sie gelernt, wie wichtig Strategien sind. „Vom Müssen zum Wollen und vom Wollen zum Tun“, formuliert sie es. Heute stellt sie sich einen Wecker, guckt sich eine bestimmte Ecke zum Aufräumen aus und bleibt einfach dran. Auch einen „Notfallkoffer“ mit den wichtigsten Gegenständen hat sie gepackt. Vorwürfe aus dem Umfeld helfen den Betroffenen nicht, Konsequenzen wie der Besichtigungstermin des Vermieters können aber hilfreich sein.

Das Leben selbst ordnen

Das Aufräumen kann den Betroffenen niemand abnehmen: „Wir müssen unsere Wohnung und unser Leben selbst ordnen“, betont Gisela. Mit Zusammenhalt, offenen Gesprächen, gemeinsamen Geburtstagsfeiern und Anrufen hilft ihr die Gruppe dabei sehr. „Den Betroffenen ernst nehmen und den Zustand der Wohnung nicht auf die Person übertragen “, wünscht sich Ulla. Bei ihr ist mithilfe der Gruppe aus der Unordnung etwas ganz Neues erwachsen: Der entrümpelte Keller bietet nun einer jungen Familie aus Costa Rica Wohnraum.

>>> WAZ-Gespräch: „Messie ist keine eigenständige Diagnose“

Rainer Rehberger ist Facharzt für Psychotherapeutische und Innere Medizin. Er hat unter anderem das Buch „Selbsthilfe für Messies“ geschrieben.

Was zeichnet das Messie-Syndrom aus?

Rainer Rehberger: Messie ist keine eigenständige Diagnose, mehrere Störungen kommen zusammen. Am auffälligsten ist die zwanghafte Persönlichkeitsstörung mit Zuwiderhandeln. Die Betroffenen machen nicht, was sie sich vornehmen oder was von ihnen erwartet wird. Oft leiden sie unter Depressionen, fühlen sich unglücklich, gelähmt, verzweifelt. Häufig haben sie ein unsicher-abweisendes Bindungsverhalten und sind misstrauisch gegenüber Anderen. Ein weiteres Symptom ist zwanghafte Kauf- und Sammelsucht. Dadurch wollen die Messies Gefühlszustände der Leere vermeiden.

Zur Störung gehören auch Gefühlsblindheit oder -losigkeit gegenüber Anderen, weshalb Messies oft keine tiefen Beziehungen eingehen können. Viele erleben Schmerzzustände, für die Schulmediziner keine Erklärung finden. Betroffene leiden unter Verlassenheitspanik oder Trennungsängsten – auch bezüglich Gegenständen. In einzelnen Bereichen ihrer Tätigkeit leiden Messies unter Perfektionismus und sind überstreng mit sich.

Wo liegen die Ursachen der Messie-Störung?

Oft liegen die Ursachen für das Verhalten als Erwachsener schon in der Kindheit. Viele Patienten haben bereits in frühen Tagen Zwang, Entbehrungen, Misshandlungen und das Gefühl, unerwünscht zu sein erlebt. Aufzeichnungen aus der Baby-Zeit bringen oft Hinweise: Eine Patientin hatte etwa eine sehr strenge Reinlichkeitserziehung erfahren. Die Mutter hatte nach der Uhr gefüttert und das Kind regelmäßig um 2 Uhr nachts geweckt und aufs Töpfchen gezwungen, um Windeln zu sparen. Bei einer anderen Patientin hat die Mutter unter Gewalteinwirkung das Kind gefüttert.

Warum ist Selbsthilfe bei Messies sinnvoll und wie sollte sich das Umfeld verhalten?

Neben den praktischen Alltagstipps bieten die Gruppen eine Möglichkeit, Beziehungen zu lernen, sich auf andere einzulassen und mit Anderen zu fühlen. Das Umfeld sollte von der Not der Betroffenen wissen: Sich von etwas zu trennen oder das, was sie sich vornehmen zu machen – sei es die Steuererklärung oder Aufräumen.

Angehörige müssen wissen, dass sich Betroffene für das Chaos schämen. Es hilft, wenn sie sich über Ursachen und Symptome informieren. Das Aufräumen kann man nicht abnehmen, auch Entscheidungen, was in den Müll kommt, müssen die Messies selbst treffen.