Duisburg. . Zu viel Quantität, zu wenig Qualität und Defizite in den Abläufen beklagten vier Fachleute bei der Diskussion über das Gesundheitssystem.
- Vier Fachleute diskutierten unter Leitung von Randi Crott über den „großen kranken Riesen“
- Der Patient kommt erst an zweiter Stelle hinter der Ökonomie, beklagen die Experten
- Sie fordern eine stärker patientenorientierte Ausrichtung des Systems
Wenn ein ehemaliger Krankenkassen-Chef, ein Forscher der Gesundheitswirtschaft, ein Medizin-Jurist und ein Professor für Gefäßchirurgie den „großen kranken Riesen“ Gesundheitssystem sezieren, dann ist den Patienten und Versicherten ein unterhaltsamer Vormittag gewiss. Zu sehr geht’s ums Geld, zu wenig um den Patienten – darin waren sich beim 15. Rathausgespräch Wilfried Jacobs (Ex-Vorstand AOK), Prof. Dr. Boris Augurzky (RWI-Leibniz-Institut), Carlos A. Gebauer (Anwalt) und Prof. Dr. Wilhelm Sandmann dabei einig.
Zu viele Bagatellfälle in den Praxen
„260 Milliarden Euro geben wir für das Gesundheitswesen aus. Das ist irre viel, aber wir verteilen es falsch“, glaubt Wilfried Jacobs, den die Erkrankung seiner Frau bewegte, einen Verein für die Untersuchung von Versorgungsabläufen von Patienten zu gründen. „Ich fühle mich gut behandelt, aber im System fühle ich mich nicht wohl.“ Diesen Satz einer krebskranken Zuhörerin hörte der langjährige Kassen-Chef auch von seiner Gattin.
Seit der Umstellung der Honorierung auf Fallpauschalen (DRG - Diagnostic Related Groups) vor zwölf Jahren honoriere das System zwar die Quantität, nicht aber die Qualität, bedauern die Fachleute. Dabei strebten nicht nur Krankenhäuser nach möglichst hohen Fallzahlen, „auch der Hausarzt muss möglichst viele behandeln, um auf sein Geld zu kommen“, so Boris Augurzky, der beklagt, dass zudem viele Patienten mit Bagatellen die Wartezimmer der Arztpraxen und Notfallambulanzen der Hospitäler verstopfen: „Dabei müssten die Ressourcen denen zugute kommen, die den höchsten Bedarf haben.“
Mehr ambulant statt stationär – das hält Wilhelm Sandmann auch in Krankenhäusern für sinnvoll: „Bei vielen Eingriffen ist nur die Narkose ein Problem.“ Bei wieder anderen sei eine Nacht im Hospital nach der OP aber besser: „Die Versorgung des Patienten, wenn etwas passiert – das ist ein Problem.“
Enorme Kosten durch Streit um Abrechnungen
Zu viel Geld koste der Medizinbetrieb die Versicherten, beklagen die Fachleute. „Wenn das Geld die Prozesse steuert, muss man aufpassen, dass der Patient nicht unter die Räder kommt.“ Prozesse führt Carlos Gebauer als Fachanwalt – der Medizinrechtler ist gefragt, wenn Hospitäler mit Kassen um Abrechnungen streiten. Häufig werde durch die Instanzen bis zum Bundessozialgericht gefochten, mit enormen Kosten. „Davon“, so Gebauer, „bekommen Sie als Versicherter nichts mit.“ Die Diagnose des Juristen: „Der einzelne Patient steht an zweiter Stelle, wichtig ist das Gleichgewicht zwischen Einnahmen und Ausgaben.“
Das Gesundheitssystem sei konzentriert auf den Arzt, nicht auf den Patienten, konstatiert Boris Augurzky. Die Herausforderung sei, es „patientenzentriert zu gestalten, ohne mehr auszugeben“. Idealerweise gebe es ein Vergütungssystem, in dem alle Akteure Vorteile sehen.
Allerdings glaubt auch der Wissenschaftler „nicht an ein System, das keine Kollateralschäden schafft“. Trotz aller Defizite des aktuellen, auf Quantität ausgelegten Verfahrens, schaffe es auch Transparenz und Vergleichbarkeit, meint der Wissenschaftler und Politikberater. Augurzky: „Da wird dann auch Qualität sichtbar.“ Leider werden aus den Statistiken aber noch nicht die erforderlichen Konsequenzen gezogen, bedauert Wilfried Jacobs: „Bei 17 Krankenhäusern in der Region, die Hüften operieren, liegt die Komplikationsrate zwischen fünf und 28 Prozent.“ Das könne derzeit noch dazu führen, „dass ein Haus auch noch an den Komplikationen verdient“, so der einstige AOK-Manager.
Gesundheitskonzerne übernehmen immer mehr Krankenhäuser
Gibt es Anlass zur Sorge, dass Gesundheitskonzerne immer mehr Häuser in zuvor kommunaler oder kirchlicher Trägerschaft übernehmen, fragte Moderatorin Randi Crott.
„Ich sehe das skeptisch. Wenn aus den Fallpauschalen auch noch Aktionäre bedient werden müssen, wird es eng“, glaubt Wilfried Jacobs. Er habe deshalb seinerzeit den Ruhrbischof „händeringend gebeten, das katholische Klinikum in Duisburg nicht abzugeben.“ Ein Problem sei die Überkapazität in den Städten, die er auf bundesweit 250 000 Krankenhausbetten beziffert. Die private neben der gesetzlichen Versicherung spiele da eine untergeordnete Rolle, so der Ex-Vorstand der AOK: „Ein Privatpatient bekommt schneller einen Termin für eine überflüssige Leistung. Die meisten sind im gesetzlichen System, die Versicherung zusätzlicher Leistungen soll möglich sein.“
Entscheidend sei die Transparenz der Ergebnisse in einer Klinik, betonte Boris Augurzky: „Dann ist zweitrangig, wer der Träger ist.“
„Bizarr“ findet Wilhelm Sandmann aus ärztlicher Sicht jedoch den Kundenbegriff im Krankenhaus: „Ein Patient ist ein Mensch, der Hilfe braucht.“ Eine gute Behandlung sei die Voraussetzung für Wirtschaftlichkeit, glaubt der Gefäßchirurg: „Ein gut operierter Patient bringt zwei neue.“