Duisburg. Katrin Müller-Rottgardt ist eine der besten blinden Sprinterinnen der Welt. Mit ihrem Guide will sie eine Medaille bei den Paralympics in Rio holen.

In Gedanken gehen sie den Ablauf noch einmal durch. „Auf die Plätze.“ Sie stellen sich an die Startlinie. „Fertig.“ Beide nehmen ein Bein zurück, spannen die Oberschenkelmuskulatur an. Anstatt „Los“ gibt Sebastian Fricke ein leises „Hop“ als Startkommando. Er und Katrin Müller-Rottgardt schießen mit schnellen Schritten synchron über den roten Tartan der Sporthalle des TV Wattenscheid.

Er sieht das Ziel, sie nicht.

Das schnellste Duo Deutschlands

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    Zumindest nicht viel davon. „Ich habe noch eine Sehkraft von zwei Prozent. Offiziell gelte ich schon als blind.“ Katrin Müller-Rottgardt ist eine der schnellsten blinden Sprinterinnen der Welt. Kürzlich sicherte sie sich den Europameister-Titel über 100 und 200 Meter. Das nächste große Ziel sind die Paralympics in Rio de Janeiro. Ihr neuer Guide, so nennt sich derjenige, der zusammen mit einem blinden Athleten sprintet, ist Sebastian Fricke. Müller-Rottgardt, die gebürtige Duisburgerin, trainiert mit Fricke inzwischen in Wattenscheid, einem der 19 Olympiastützpunkte in Deutschland.

    Bestzeit auf 100 Metern: 12.10 Sekunden

    Die Qualifikation für die Paralympics haben die beiden längst in der Tasche und verbesserten ihre persönliche Bestleistung auf 12:10 Sekunden über 100 Meter. Zum Vergleich: Die schnellste deutsche nicht-behinderte Sprinterin, Tatjana Pinto, holte sich den diesjährigen nationalen Titel mit einer Zeit von 11:39 Sekunden.

    Das Handicap

    Katrin Müller-Rottgardt kam mit einer Augenkrankheit auf die Welt und hat nur noch ein Sehvermögen von zwei Prozent. „Man hat mir erklärt, dass es so ist, als wenn man durch eine komplett vereiste Scheibe gucken würde. Ein paar Farbunterschiede nehme ich wahr“, erklärt sie. Mit dieser Behinderung wurde sie mit T12 in die mittlere der drei Starklassen (T11 bis T13) zugeordnet.

    „Wir sind momentan gut drauf. Jetzt müssen wir hoffen, dass Bastis Bein hält.“ Die 34-Jährige klopft ihrem Laufpartner auf die Schulter. Eine Zeit um 12 Sekunden, das wäre schon möglich, glaubt sie. Allerdings macht sich Sebastian Frickes Achillessehne in letzter Zeit öfter bemerkbar. „Das ist echt blöd, denn ohne ihn, kann ich nicht starten“, erklärt die Leistungssportlerin, die nicht nur auf der Laufbahn sondern auch abseits des Tartans auf ihren Guide angewiesen ist. „In fremden Stadien ist er mein Auge.“

    Und das ist der 29-Jährige Gladbecker gern. Für mich sind es auch viele fantastische Erfahrungen, die ich mit Katrin zusammen mache.“ Mit ihr fliegt er um die Welt, startet bei großen Wettkämpfen, zu denen er es nie alleine geschafft hätte. Im vergangenen Jahr trat das Duo beispielsweise bei der Weltmeisterschaft in Doha an (zwei Mal Platz fünf). Müller-Rottgardt war dort auch beim Weitsprung am Start. Die Leichtathletin hofft, dass es in Rio in einer der drei Startklassen vielleicht sogar für eine Medaille reicht. Dafür trainiert sie jeden Tag.

    Kubanerin hält paralympischen Weltrekord

    Den aktuellen paralympischen Weltrekord über 100 Meter in der Startklasse T12 hält die Kubanerin Omara Durand. Die 25-Jährige lief im Herbst vergangenen Jahres in Doha eine Zeit von 11:48 Sekunden. Bei den Paralympics 2012 in London siegte sie über die 100 Meter- und über 400 Meter-Distanz. Damals trat sie noch in der Startklasse T13 an, in der Athleten starten, die noch ein bisschen besser sehen können, als Sportler der Klasse T12, in der auch Katrin Müller-Rottgardt startet. Auch in diesem Jahr ist die kubanische Weltrekordhalterin bisher die Schnellste.

    Kommunikation per Schnürsenkel 

    Hilfsmittelcheck

    Es ist zwar nur eine kleine Verbindung, dafür aber eine ziemlich wichtige. Das schwarze Band, das Katrin Müller-Rottgardt aus ihrem Schuhbeutel fischt, ist nichts anderes als ein Schnürsenkel. Ein dicker für Sportschuhe. „Sonst ist da nichts besonderes dran“, erklärt die Sprinterin. Sie legt die am Ende verknotete Kordel dreifach um ihre Hand. In der Schlaufe hat noch genau die Hand von Sebastian Fricke Platz.

    Nur mit einem Schnürsenkel sind Katrin Müller-Rottgardt und ihr Guide Sebastian Fricke beim Sprint verbunden.
    Nur mit einem Schnürsenkel sind Katrin Müller-Rottgardt und ihr Guide Sebastian Fricke beim Sprint verbunden. © FUNKE Foto Services

    Zwei solcher Bänder haben die Sprinter im Gepäck. Für den Fall, das eins verloren geht. Genaue Vorgaben, wie das Seil beschaffen sein muss, gibt es nicht. „Es darf nur nicht elastisch sein.“ Neuerdings ist es außerdem nicht erlaubt, die Hand während des Sprints aus der Schlaufe zu lösen. „Wer herausrutscht, wird disqualifiziert.“

    Inklusionscheck

    Dass Katrin Müller-Rottgardt eine Behinderung hat, spielt beim Training kaum eine Rolle. „Meine Trainingskollegen wissen Bescheid. Alle schauen ein bisschen mit auf die Bahn, auf der ich laufe. Sonst ist das eigentlich nebensächlich.“ Mit den Zeiten, die sie läuft könnte sie theoretisch auch an Westdeutschen Meisterschaften der nicht behinderten Sportler teilnehmen. Das gestaltet sich allerdings schwierig. „Sebastian und ich bräuchte dann ja zwei Bahnen. Ich würde mich sehr freuen, wenn ich auch dort antreten könnte, aber ich verstehe natürlich, dass wir nicht auf zwei Bahnen laufen können.“

    Sportstättencheck

    In der heimischen Halle und im Stadion kennt sich Katrin Müller-Rottgardt aus. Auch die Umgebung ist ihr vertraut. „Da gibt es soweit keine Probleme“, sagt sie. Geht es allerdings in auswärtige Stadien, fangen die Probleme an. Jede Stufe wird zum Hindernis, in Blindenschrift ist fast nichts ausgeschildert. Guide Sebastian Fricke weicht dann nicht von ihrer Seite, kündigt jede Stolperfalle an und muss noch wachsamer beim Trainieren und Aufwärmen sein. „Rucksäcke, die auf den Bahnen liegen, unachtsame Athleten, die nicht sofort bemerken, dass ich nicht gut sehe: Das sind große Risikofaktoren.“

    Drei Fragen an Trainerin Simone Lüth 

    Simone Lüth ist Trainerin von Katrin Müller-Rottgardt. Im Kurzinterview erklärt sie, vor welche Herausforderungen sie das Training mit der blinden Sportlerin stellt.

    Simone Lüth
Trainerin Simone Lüth, TV Wattenscheid, Trainerin von Katrin Müller-Rottgardt, Leichtathletik, Behindertensport
    Simone Lüth Trainerin Simone Lüth, TV Wattenscheid, Trainerin von Katrin Müller-Rottgardt, Leichtathletik, Behindertensport © Privat

    Welche Besonderheiten gibt es beim Training einer blinden Sportlerin wie Katrin Müller-Rottgard?

    Simone Lüth: Als Trainerin musste ich viel dazulernen: schauen, ob die Bahn frei ist, sie viel in der Halle begleiten. Außerdem muss ich Übungen genau erklären und kann Bewegungsabläufe nicht einfach vormachen. Aber es ist erstaunlich, wie schnell Katrin die Dinge, die ich erkläre umsetzen kann. Manchmal sogar deutlich schneller als ihre sehenden Trainingspartner.

    Welcher Bereich des Trainings ist am kompliziertesten?

    Lüth: Das Zusammenspiel mit dem Guide ist sehr wichtig. Da kann man als Trainer von außen nur bedingt weiterhelfen. Katrin und ihr Guide Sebastian Fricke probieren zum Glück viel aus. Wollen sie lieber dichter aneinander laufen, oder doch mehr Abstand? Das können sie nur als Duo entscheiden.

    Was trauen Sie dem Duo Müller-Rottgardt/Fricke in Rio zu?

    Lüth: Katrin und Sebastian sind momentan gut drauf und haben einen ordentlichen Sprung nach vorne gemacht. Eine Medaille wäre natürlich schön, realistisch ist allerdings eher eine Platzierung um Rang fünf herum. Ich hoffe, dass Katrin auch nach den Paralympics noch weiter Wettkämpfe bestreitet, denn ich glaube, sie hat noch Luft nach oben.