Bottrop. Leibliche Kinder, Pflegekinder und immer wieder Nachwuchs in der Bereitschaftspflege: Willkommen bei einem Elternpaar mit ganz großen Herzen.
Der Sohn war mit Anfang 20 bereits ausgezogen, die Tochter mit 13 auch schon groß. Da lasen die Eheleute Ingrid und Jan (alle Namen geändert) unabhängig voneinander in der WAZ: In Bottrop werden Pflegeeltern gesucht. Der Gedanke verfing, bei beiden. Gut 20 Jahre ist das her; die beiden Pflegekinder, die mit einigen Jahren Abstand in die Familie kamen, sind heute erwachsen und adoptiert oder kurz davor. „Wir wollten immer viele Kinder haben“, merkt Ingrid an.
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Und so geben Ingrid und Jan, inzwischen Mitte 60 und seit 40 Jahren verheiratet, Kleinkindern, die nicht bei ihrer leiblichen Familie bleiben können, auch weiterhin ein Zuhause: Als Bereitschaftspflegeeltern, die in Akutsituationen zur Stelle sind, bis ein Dauerpflegeplatz gefunden ist. Gerade ist es ein kleines Mädchen, sieben Monate alt – das fünfte Bereitschaftspflegekind in der Familie innerhalb von drei Jahren. Die Kleine fühlt sich nach ihrem Mittagsschlaf sichtlich wohl auf Jans Arm, strahlt unbefangen in die Runde. Vor ihr steht fix bereiteter Brei.
Alle tragen das besondere Familienmodell mit
„Mir tun die Kinder leid“, sagt Ingrid; gleichzeitig weiß sie: „Ich kann nicht alle retten.“ Was man sofort spürt, ist: Neben den Eltern tragen leibliche wie angenommene Kinder, ja selbst der kleine Enkel (6) dieses besondere Familienmodell mit. „Meine Eltern sind sehr sozial“, sagt Tochter Sabine (37), die selbst Förderschullehrerin geworden ist. „Manchmal denke ich, sie bräuchten eine Pause. Aber der Bedarf ist unheimlich groß.“
Sabine erinnert sich noch gut daran, wie Justin (heute 26) „mit drei Jahren und drei Monaten“ als Pflegekind einzog. „Es war Liebe auf den ersten Blick, es hat zwischen uns sofort funktioniert. Er ist mein richtiger Bruder.“
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„Er war so knuddelig“, erzählt Ingrid. „Und von Geburt an gehörlos.“ Dass die Bottroper Familie die Ressourcen für ein Kind mit Einschränkungen hat, hatten die Fachfrauen vom Sozialdienst katholischer Frauen (SkF e.V.) im Vorfeld abgeklärt. Pflegefamilien werden vor Aufnahme eines Kindes ausführlich vom SkF e.V. geschult, im Anschluss stets begleitet. Mutter Ingrid hat sich dieser Aufgabe von Anfang mit voller Kraft gewidmet, ist nicht wieder ins Berufsleben zurückgekehrt. Um so etwas überhaupt zu ermöglichen, gibt es für die Unterbringung eines Pflegekindes finanzielle Unterstützung.
Vier Tage vor Weihnachten kam Justin in seiner Pflegefamilie an; er selbst erinnert sich noch daran, dass er ein neues Zimmer bekam. Nach vier Monaten erhielt er ein Hör-Implantat, anschließend Sprach- und Hörtherapie bis zu seinem 18. Lebensjahr. Er machte sein Fachabitur, arbeitet inzwischen als Sozialversicherungsangestellter. Für ihn steht fest: „Ich möchte selbst einmal ein Pflegekind aufnehmen.“
Für die Familie war klar: Karina muss einfach bleiben
Justin und Karina wurden bei Ingrid und Jan groß. Karina (heute 21) kam mit 17 Monaten als Notfall in die Familie. „Sie war unser erstes Bereitschaftspflegekind“, erzählt Ingrid. „Morgens um 9 Uhr wurden wir angerufen, um 11 Uhr wurde sie hergebracht.“ Die Beziehung gerade zwischen Ingrid und dem Kleinkind wurde schnell sehr eng; für die Familie war klar: Karina musste einfach bleiben. Dafür hat die Familie richtig gekämpft, auch gegen Behörden.
Auch auf Karina hat die soziale, kümmernde Einstellung der Familie abgefärbt, wenn man das so sagen darf: Sie hat gerade ihre Ausbildung zur Erzieherin abgeschlossen.
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Die leiblichen Eltern der (Bereitschafts-)Pflegekinder gehören zum großen Familienkosmos ebenfalls dazu. Es gibt Besuchskontakte, die mal mehr, mal weniger gut verlaufen, von den Kindern häufig erst einmal wieder verarbeitet werden müssen. Ingrid: „Die Kinder haben oft eine Menge erlebt und spüren in der Begegnung, dass da was war.“ Sabine betont: „Man hat natürlich Verständnis für die Mütter, sie haben selbst viel erlebt.“
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Für die 37-Jährige ist ein wichtiger Grund für das Funktionieren ihrer Familie, dass kein Unterschied gemacht wird zwischen leiblichen Kindern und Pflegekindern. Das bestätigt Justin: „Meine Eltern haben uns immer gleich behandelt. Vielleicht uns Pflegekinder ein wenig spezieller, weil wir etwas mehr brauchten.“ Vater Jans Erfahrung ist: „Gerade die Pflegekinder haben eine schwere Zeit hinter sich. Sie brauchen uns Eltern noch, auch wenn sie schon 18 Jahre alt sind.“
Mit allen zusammen habe es stets ein lebendiges Familienleben gegeben. „Meine Eltern haben viel mit uns unternommen. Wir fahren heute noch mit allen zusammen in den Freizeitpark“, erzählt Sabine. Klar sei das Engagement ihrer Eltern auch anstrengend, war es teils auch für sie als Jugendliche. Doch wie sie alle zum Gespräch über ihre Familie zusammengekommen sind, spürt man: Diese besondere Gemeinschaft ist jede Anstrengung wert.
Was die Bereitschaftspflege zu einer Herausforderung macht, sind für Ingrid und Jan vor allem die Abschiede. Gerade dann, wenn eins der kleinen Kinder über ein Jahr bei ihnen war, was eigentlich nicht vorgesehen ist. „Wir machen eine gemeinsame Feier, wenn die Kinder gehen“, erzählt Ingrid. Dennoch: „Ein Stück von meinem Herzen geht immer mit.“
Den Alltag haben sie mit viel Erfahrung im Griff. „Was brauchen die Kinder? Ein regelmäßiges Leben, Verlässlichkeit, ihre Bedürfnisse müssen gestillt werden“, zählt Ingrid auf. „Und sie brauchen Liebe“, ergänzt Jan. Bei den Schlaf raubenden Nachtschichten wechseln sie sich ab. Besuche bei der Frühförderung oder im Sozialpädiatrischen Zentrum gehören ganz selbstverständlich zur Betreuung dazu.
Eine Pflegefamilie ist eine öffentliche Familie
Karin Balzer vom Sozialdienst katholischer Frauen (SkF e.V.) sagt zur Bereitschaftspflege: „Man ist ein Wegbegleiter. Oft ist es für die Kinder die erste Zeit der Sicherheit und Kontinuität.“ Gleichzeitig muss man sich als Pflegefamilie darüber im Klaren sein, dass man eine öffentliche Familie ist. Jugendamtsmitarbeiter, Verfahrenspfleger, Gutachter, Vormund – alle kommen regelmäßig ins Haus.
Fakt ist: Aus dem Windelwechseln kommen Jan und Ingrid, wie es scheint, so schnell nicht heraus. „Das ist nicht schlimm“, sagt Ingrid mit einem Lachen, „wir wissen ja, wie das geht!“ Und wenn sie 70 wird, hat sie sich fest vorgenommen, „dann ist Schluss!“
Der Sozialdienst katholischer Frauen sucht noch Familien für die Bereitschaftspflege sowie Westfälische Pflegefamilien. Letztere zeichnen sich durch eine besondere Eignung bzw. pädagogische/medizinische Qualifikation aus und nehmen Kinder bei sich auf, die schwer vernachlässigt worden sind, Misshandlungen erlitten haben oder beeinträchtigt bzw. behindert sind. Kontakt: 02041 18663-0