Bottrop. NRW hat einen Hilfsfonds für die Opfer des Bottroper Apothekerskandals eingerichtet. Doch davon profitierten nicht alle, sagen Geschädigte.

In 14.500 Fällen hat der Bottroper Apotheker Peter S. Krebsmedikamente gestreckt oder verfälscht und die Krankenkassen so um Millionen betrogen. Dafür hat ihn im Juli 2018 das Landgericht Essen zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Seine Opfer haben jahrelang um Anerkennung und Entschädigung gekämpft. Jetzt kassieren sie die nächsten Nackenschläge – ausgerechnet vom NRW-Gesundheitsministerium.

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Wer entschädigt uns für das unermessliche Leid, das uns durch den Apothekerskandal entstanden ist? Für die Krebserkrankungen, die zurückgekommen sind nach der Behandlung mit gestreckten Medikamenten. Für die Ungewissheit, ob wir falsch behandelt worden sind? Wer entschädigt die Angehörigen von Krebspatienten, die inzwischen gestorben sind? Diese Fragen haben die Opfer des Apothekers schon vor dem Prozess gestellt. 52 von ihnen haben die Fragen als Nebenklägerinnen in die Verhandlung getragen. Und sie haben sie weiter gestellt nach der Verurteilung. Denn das NRW-Opferentschädigungsgesetz, haben die Opfer erfahren müssen, greift nicht im Fall des Apothekerskandals. Voraussetzung für eine Entschädigung sei ein „vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff gegen eine Person“. Die sei hier nicht gegeben: Entschädigungsantrag abgelehnt.

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Vergeblicher Versuch: Petition im Landtag abgewiesen

Dann muss das Gesetz eben geändert werden, forderte die Bottroper Krebspatientin Heike Benedetti und brachte eine entsprechende Petition in den Landtag ein. Ihr Ziel: Auch die Unterlassung von lebensrettenden Therapien solle künftig als Gewalttat gewertet werden können. Doch der Petitionsausschuss sah im Oktober 2019 „leider keine Möglichkeit“ dazu: Entschädigungsantrag abgelehnt.

Kämpft um eine Entschädigung für ihr Leid: Christiane Piontek, hier bei der Mahnwache im Oktober 2017 in der Bottroper Innenstadt.
Kämpft um eine Entschädigung für ihr Leid: Christiane Piontek, hier bei der Mahnwache im Oktober 2017 in der Bottroper Innenstadt. © FUNKE Foto Services | Heinrich Jung

Die Frauen kämpfen weiter um die Entschädigung für ihr Leid. Viele starben, bei anderen kam der Krebs zurück. Eine von ihnen ist die Bottroperin Christiane Piontek, die „natürlich“ die Unterdosierung von Krebsmedikamenten für ihre Wiedererkrankung verantwortlich machte. Sie gehört zu den Frauen, die ihr Leid und ihre Forderungen schließlich Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann vortragen konnten. Sie hat die Szene im Ministerbüro noch vor Augen und die Stimme des Ministers noch im Ohr: „Ihr seid alle Opfer. Ihr werdet alle entschädigt.“

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Zu diesem Zweck hat Laumann im April einen Fonds eingerichtet, aus dem die Betroffenen eine Einmalzahlung von 5000 Euro beantragen konnten. Und er hat aus diesem Anlass starke Worte gefunden: „Dieses Leid ist nicht mit Geld aufzuwiegen. Ich hoffe aber, dass die vom Land zur Verfügung gestellten Mittel helfen, die persönliche Notlage wenigstens ein Stück weit abzumildern. Eins muss klar sein: Die Betroffenen können sich der Solidarität und der Verbundenheit des Landes sicher sein.“

Entschädigungsantrag abgelehnt

Die Betroffenen haben gejubelt: Endlich hilft uns jemand! Auch Christiane Piontek hat sofort einen Antrag auf die „Billigkeitsleistung“ gestellt. Jetzt hat sie Bescheid bekommen vom Ministerium. Dreimal dürfen Sie raten: Entschädigungsantrag abgelehnt. „Ich bin maßlos enttäuscht“, sagt Christiane Piontek. Und sie ist kein Einzelfall, weiß sie aus dem gut vernetzten Kreis der Opfer: „Wir wissen von 311 Anträgen. 150 sind schon abgelehnt.“ Diese Zahlen hat das Gesundheitsministerium inzwischen bestätigt.

Der Stuttgarter Opferanwalt Manuel Reiger weiß von einer noch viel schlechteren Quote zu berichten: „Aus meinem Mandantenkreis haben bisher nur 5 von 36 Geschädigten eine Leistung aus dem Fonds erhalten. Was durch den Hilfefonds an Gutes geleistet werden sollte, hat sich für viele Betroffene in eine noch größere Ungerechtigkeit gewandelt“, schreibt er dem NRW-Gesundheitsminister.

Opferanwalt klagt über „Gerechtigkeitslücke“

In den Bescheiden verweist das Ministerium auf eine Richtlinie des eigenen Hauses: Grundlage für die Entscheidung sei das Urteil des Landgerichts Essen. „In vielen Fällen konnten keine Verunreinigungen oder Unterdosierungen festgestellt werden. Diese Fälle sind strafrechtlich nicht als Verstoß gegen das Arzneimittelgesetz bewertet worden.“ Christiane Pionteks Medikament gehöre zu diesen Fällen. Also: Entschädigungsantrag abgelehnt.

Grob ungerecht, sagt der Opferanwalt und verweist auf die Ergebnisse der Durchsuchung des Labors des Apothekers im November 2016: Da „konnte man auch objektiv feststellen, dass der Apotheker auch günstigere Wirkstoffe, wie die vorgenannten, mit viel zu wenig Wirkstoff versehen hat“. Und weiter: „Niemand, der Chemotherapie aus der Apotheke erhalten hat, kann sich sicher sein, dass seine Medikamente auch den Wirkstoff enthalten haben, den er gebraucht hat. Man wird nie sicher wissen, ob die Medikamente auch wirklich das Risiko einer Rückkehr des Tumors wirksam gesenkt haben. Durch die Entscheidung Ihres Ministeriums ist eine erhebliche Gerechtigkeitslücke entstanden.“

„Für 5000 Euro bekommt man wenigstens eine schöne Beerdigung“

Mindestens die 52 Nebenklägerinnen wie Christiane Piontek, sagt Manuel Reiger, sollten doch wohl ganz oben stehen auf der Liste der Empfänger der „Billigkeitsleistung“ von 5000 Euro. Durch die Zulassung von Christiane Piontek als Nebenklägerin habe das Landgericht doch „anerkannt, dass die Geschädigte Opfer der Taten des ehemaligen Apothekers geworden ist“. Das findet Christiane Piontek auch. Und dann sagt sie einen Satz, der zynisch klingt. Aber sie meint ihn sehr ernst: „Für 5000 Euro bekommt man wenigstens eine schöne Beerdigung.“ Selbst dafür habe bei vielen Verstorbenen und ihren Angehörigen das Geld nicht gereicht.

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Das Gesundheitsministerium bleibt aber auf WAZ-Anfrage dabei, das Landgerichtsurteil bleibe ausschließliches Kriterium für die Auszahlung. „Ausweislich dieses Urteils waren rund 2000 Personen von den vorsätzlichen Verstößen des Bottroper Apothekers gegen das Arzneimittelgesetz betroffen“, sagt Ministeriumssprecher Carsten Duif. „Diese Personen sind nach der Richtlinie leistungsberechtigt. Viele Fälle sind strafrechtlich nicht als Verstoß gegen das Arzneimittelgesetz bewertet worden. Insofern ist leider nicht jeder, der Krebsmedikamente aus der Alten Apotheke Bottrop erhalten hat, auch leistungsberechtigt.“