Bottrop. Vor fünf Jahren sprach Qussay Kisanieh kein Deutsch. Nun macht er das beste Abi an Bottrops Janusz-Korczak-Gesamtschule. So hat er das geschafft.

„Ich wollte schon immer Medizin studieren. Das hatte ich vor Augen, nichts hat mich aufgehalten“, sagt Qussay Kisanieh. 2016 floh er aus Syrien nach Deutschland – und nur fünf Jahre später macht er das beste Abitur an der Janusz-Korczak-Gesamtschule (JKG) in Bottrop. Mit der Traumnote 1,1. Das Medizinstudium kann kommen.

Bottroper Gesamtschüler erreicht 809 von 900 Punkten im Abitur

809 von 900 erreichbaren Punkten im Abitur, das kann sich ohne Zweifel sehen lassen. Dennoch hadert der Abiturient ein wenig mit der Ausbeute. „Ich hätte auch eine 1,0 erreichen können. Aber die mündliche Prüfung in Bio lief nicht so gut.“ Anders als erwartet.

Qussay Kisanieh mit Beratungslehrer Klaus Möllers in der Janusz-Korczak-Gesamtschule in Bottrop. Von den Lehrern fühlte der junge Mann sich sehr gut unterstützt.
Qussay Kisanieh mit Beratungslehrer Klaus Möllers in der Janusz-Korczak-Gesamtschule in Bottrop. Von den Lehrern fühlte der junge Mann sich sehr gut unterstützt. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

Qussay Kisanieh ist talentiert, ehrgeizig, fleißig und positiv eingestellt. „Alle Schwierigkeiten, die ich hatte, haben mich nicht daran gehindert, mein Ziel zu erreichen. Ich habe sie als Herausforderungen gesehen. Diese Sichtweise hat mir geholfen“, meint er im Rückblick.

Der Flüchtling hatte schon in seiner Heimat Syrien gute Noten

Die erste Schwierigkeit: Bei seiner Ankunft in Bottrop – sein Vater hatte den Rest der sechsköpfigen Familie im Rahmen der Familienzusammenführung hergeholt – sprach Qussay kein Wort Deutsch. „Alles war neu für mich. Mit 16 Jahren war es gar nicht so einfach, die Sprache zu lernen.“ In der Internationalen Förderklasse an der Gustav-Heinemann-Realschule war er mit Abstand der Älteste. „Das war für mich ein bisschen peinlich. Deshalb habe ich nicht nur in der Schule gelernt, sondern auch in den Sommerferien, um mich zu verbessern.“ Ab der zehnten Klasse galt er, der schon in Damaskus gute Noten hatte, als regulärer Schüler. „Da hatte ich einen Durchschnitt von 1,6“, erzählt er.

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An der JKG wählte der junge Mann sein Lieblingsfach Mathe als Leistungskurs – und weil der Bio-LK nicht zustande kam, als zweites Schwerpunktfach Deutsch. „Ehrlich gesagt hatte ich Angst davor.“ Beratungslehrer Klaus Möllers habe ihm die Methode beigebracht, viel zu lesen, auch aus vergangenen Jahrhunderten. Als logischer Mensch, wie Qussay sich bezeichnet, hat er sich die Sprache zu eigen gemacht.

Corona-Pandemie mit Distanzunterricht war für Bottroper einer Herausforderung

Die zweite Herausforderung seien teils Gleichaltrige gewesen. Die, die anfangs über seine noch schlechten Deutschkenntnisse lachten – ihn später aber um Mathe-Nachhilfe baten. Die, die ihn runterzogen: Du wirst das Abi nicht schaffen. Die, die ihn am ZOB angriffen und die Hand brachen: „Das waren auch Flüchtlinge aus Syrien.“

Die letzte Herausforderung schließlich war die Corona-Pandemie samt Distanz-Unterricht. „Es war echt schwierig, sich auf die Fächer zu konzentrieren.“ Was noch gekrönt wurde von einer Mathe-Abi-Prüfung, die „der Pandemie unangepasst“ mit einem ganz neuen Aufgabentyp dahergekommen sei. „Ich habe eine Eins geschrieben – doch die zweitbeste Note im Kurs war eine Vier plus.“

Bei seiner Zielstrebigkeit ist vor allem sein Vater ihm ein Vorbild: „Er ist Physiotherapeut und hat eine eigene Praxis in Essen.“ Mit ihm (und Freunden) macht er gerne Sport, vor allem im Fitness-Bereich. Sollte ihm sonst mal langweilig sein, „dann löse ich Mathe-Aufgaben“, meint der Abiturient und muss lächeln.

Flüchtling engagierte sich als Jahrgangssprecher und Übersetzer an der JGK

Doch er hat ohne Zweifel auch eine soziale Ader, war zum Beispiel an der JKG zwei Jahre lang Jahrgangssprecher, half als Übersetzer für Arabisch aus.

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Zurück nach Syrien? Will Qussay Kisanieh in keinem Fall: „Dieses Land werde ich nicht betreten“, sagt er. „Immer, wenn ich an das Land denke, kommt alles wieder hoch.“ In der sechsten Klasse hatte Qussay zwei beste Freunde, mit denen er später Medizin studieren wollte. „Sie waren praktisch eine Kopie von mir“, beschreibt er die Nähe zu ihnen. Eines Tages, in der großen Pause, suchte er die Toilette auf. „In diesen fünf Minuten wurde der Schulhof bombardiert“, berichtet er. „Ich komme raus – und bin alleine.“ Ein Schock – und ein Schmerz, der bis heute andauert. „Das verfolgt mich immer.“

Er hat überlebt. Er gibt für seine Träume alles. Nun hofft er, an der Uni-Bochum zum Medizin-Studium angenommen zu werden. Warum Bochum? „Ich will nicht ausziehen“, sagt er mit Blick auf seine Familie in Bottrop. Ein Stipendium hat Qussay Kisanieh zudem in Aussicht. Und die deutsche Staatsbürgerschaft fest im Blick.

Drei Einser-Abis an der JKG

Insgesamt haben an der Janusz-Korczak-Gesamtschule in diesem Jahr 34 Schülerinnen und Schüler ihr Abitur gemacht. Bei drei von ihnen steht bei der Abschlussnote eine 1 vor dem Komma, berichtet Schulleiter René Heuwieser.

„Qussay ist in einen starken Jahrgang hinein gekommen, das spielt auch eine Rolle“, meint Heuwieser. „Wir haben durchaus noch mehr Schüler wie ihn, die andere anspornen, Leistung zu bringen“, freut sich der Schulleiter.

Qussay Kisanieh seinerseits lobt die Lehrer: „Sie unterstützen einen immer, wenn sie merken, dass man ein Ziel erreichen will.“ Und: „Die Lehrer sind alle tolerant.“