Bottrop. Joko und Klaas haben den Pflegenotstand in Deutschland thematisiert. Eine Bottroperin spricht über Missstände und sagt, was sich ändern muss.

„Es wird geklatscht, und die Leute vergessen wieder“, sagt Flora Reiling. Sie ist Altenpflegerin bei einer Zeitarbeitsfirma, arbeitet immer wieder in verschiedenen Einrichtungen. Was alle gemeinsam haben: Personalknappheit, schwierige Arbeitsbedingungen und oft viel zu wenig Zeit für die Bewohner.

In der vergangenen Woche machten die beiden Entertainer Joko Winterscheidt und Klaas Heufer-Umlauf auf den Notstand in der Pflege aufmerksam. In ihrer TV-Show „Joko & Klaas gegen Pro7“ hatten sie 15 Minuten Live-Sendezeit gewonnen. Aus der Viertelstunde wurden über sieben Stunden. Die Schicht einer Pflegekraft im Uniklinikum Münster wurde unter dem Motto #NichtSelbstverständlich ungeschnitten gesendet.

Bottroperin sendet sechs Minuten langes Video ein

Zwischendurch teilten Kranken- und Altenpfleger ihre Sorgen, Nöte und Erkenntnisse mit. Auch Flora Reiling aus Bottrop. „Ich habe auf der Instagramseite von ‘Pflegestufe Rot’ einen Aufruf gesehen und mich beworben. Dann habe ich von Pro7 ein paar Fragen zugeschickt bekommen und sollte ein Video aufnehmen. Für welches Format, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht“, erzählt Reiling.

Und ganz so einfach war es dann auch nicht. „Ich habe bestimmt 80 Videos gelöscht, am Ende dann ein sechs Minuten langes Video abgeschickt“, sagt sie. Erst zwei Minuten vor Ausstrahlung der Sendung habe sie erfahren, wann es losgeht.

TV-Sendung holt Pflegenotstand in die Prime-Time

„Zum Glück waren mein Mann und ich zu Hause. Ich war davon ausgegangen, dass es die üblichen 15 Minuten sind und habe mich noch gewundert, warum es so langsam anfängt. Als es dann länger als die übliche Spielfilmlänge von zwei Stunden ging war mir klar: die ziehen das durch“, verrät Reiling.

Sie freut sich, dass durch diese Sendung der Fokus wieder auf die Pflegekräfte gerichtet wird, ist sich aber auch sicher: „Jetzt müssen wir Pflegekräfte weitermachen.“

Viele Altenpfleger dürfen nicht streiken

Und das sei gar nicht so einfach. Denn Mitarbeiter bei kirchlichen Trägern ist es beispielsweise verboten zu streiken – und der Großteil der Pflegekräfte ist genau dort angestellt. „Wir bräuchten große Streiks, weitere Aufklärung im Internet, wir müssen zeigen, was wir tun. Und wir müssen uns besser organisieren“, sagt Reiling. Sie hat aber auch in den eigenen Reihen bereits Resignation festgestellt. „Viele verschließen schon verzweifelt die Augen.“

Weitere Berichte aus Bottrop

Denn die Lage in der Pflege sei nicht erst seit Beginn der Corona-Pandemie angespannt. Viel mehr würde es jetzt nur besonders deutlich werden. „Teilweise sind komplette Teams auf den Stationen ausgefallen“, berichtet Reiling.

Arbeit auf Covid-Station geht an die Substanz

In den Altenheimen sei die Phase des ersten Lockdowns besonders hart gewesen, Reiling war zu dieser Zeit an der Ostsee im Einsatz. Dort wurde ein Altenheim wegen Corona geschlossen. „Ein gestandener Mann hat dort jeden Tag bitterlich geweint, weil er seine Frau nicht mehr sehen durfte. In dieser Phase haben so viele Menschen abgebaut. Unser Job war es, noch mehr für die Bewohner da zu sein, ihnen zuzuhören, Gespräche mit ihnen zu führen“, sagt die 23-Jährige.

Und eben genauso diese zwischenmenschliche Nähe sei schon im normalen Alltag schwer zu realisieren. Zu dünn besetzt seien die Stationen, die Zeit für die Bewohner immer viel zu knapp. So knapp, dass oftmals sogar die dringendsten Bedürfnisse zu kurz kämen. „Ich würde mir wünschen, dass wir die Menschen mehr als einmal in der Woche, manchmal nur alle zwei Wochen, duschen können.“

Reaktion auf Tod eines Bewohners schockt die Bottroperin

Oft hätten die alten Menschen Verständnis für die Situation der Angestellten, wollen ihnen nicht zur Last fallen. „Dabei sollen die Bewohner doch an erster Stelle stehen“, sagt Reiling. Das zu leisten, sei aber ein enormer Kraftakt.

Ein besonders einschneidendes Erlebnis hatte Flora Reiling während einer Nachtschicht, bei der sie für 70 Bewohner verantwortlich war. „In der Nacht ist ein Bewohner gestorben und ich war ganz alleine als Fachkraft. Als der Frühdienst kam war die Reaktion: Schön, das ist ein Bewohner weniger. Da war ich erst einmal geschockt, aber die Reaktion kommt daher, dass es viel zu wenig Personal gibt.“ In Frühdiensten, in denen die meiste Arbeit anfällt, seien oftmals nur zwei Pflegekräfte für 35 Bewohner im Einsatz.

Wenn jemand ausfällt, wird eingesprungen – viele arbeiten trotz Krankheit

Immer wieder fielen zudem Kollegen krankheitsbedingt aus, der Solidaritätsgedanke unter den Pflegekräften ist aber groß. „Nach zwölf Tagen Schicht mit nur einem freien Tag springt man trotzdem wieder ein, weil man weiß, dass sonst jemand anderes einspringen würde. Viele gehen sogar krank arbeiten“, sagt Flora Reiling. Ein Teufelskreis, der an die Substanz geht.

Weitere Berichte aus Bottrop

Sie hatte sich für den Beruf der Altenpflegerin nach einem Schulpraktikum entschieden, dann im Jahr 2017 ihre Ausbildung begonnen. „Vor dem Praktikum hatte ich keine Berührungspunkte mit alten Menschen, aber mir hat es dann richtig gut gefallen“, erinnert sich Reiling. Die harte Realität hat sie dann aber schnell eingeholt.

„Manchmal weine ich zu Hause“

„Ich gehe immer gut gelaunt zur Arbeit“, sagt Flora Reiling – nach Dienstschluss weint sie manchmal, „weil es mich so belastet.“
„Ich gehe immer gut gelaunt zur Arbeit“, sagt Flora Reiling – nach Dienstschluss weint sie manchmal, „weil es mich so belastet.“ © Thomas Gödde | Thomas Gödde

„In der Ausbildung wurde ich sofort als volle Kraft eingeplant, das war ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte“, sagt sie. Trotzdem liebt sie ihren Job. „Ich gehe immer gut gelaunt zur Arbeit.“ Nach Feierabend ist sie dann meistens müde und erledigt, nimmt auch einige Erlebnisse mit nach Hause. „Manchmal weine ich zu Hause, weil es mich so belastet.“

Sie fordert, dass das komplette Pflegesystem erneuert wird – angefangen bei der aktuellen Situation. „Wenn ich mir die Corona-Maßnahmen in den Heimen anschaue, wird mir schlecht. Der Schutz für Pflegekräfte muss besser werden. Es muss dafür gesorgt sein, dass wir nicht immer aus freien Tagen einspringen müssen. Und letztlich muss die Bezahlung besser werden. Geld lockt Leute“, sagt Reiling.

Politik ist am Drücker – Reiling sieht Pflegekräfte aber in der Pflicht

Letztlich sieht sie aber auch sich selbst und ihre Arbeitskolleginnen und -Kollegen in der Pflicht. „Wir werden auch mal alt und dann könnten wir in der selben Situation sein wie die Bewohner jetzt. Weil wir uns nicht darum gekümmert haben, dass sich die Lage bessert. Deshalb müssen wir permanent darauf aufmerksam machen. Die Politik ist jetzt am Drücker.“

Dass sich ausgerechnet Joko und Klaas dem Thema angenommen haben, findet sie toll. „Ich bin froh, dass es keine Talkshow war.“ Und die Resonanz aus ihrem Freundes- und Bekanntenkreis hat sie ebenso beeindruckt wie die Reaktion ihres Arbeitgebers. „Mein Handy ist explodiert. Es war schön zu sehen, dass sich viele dafür interessieren.“

Hoffnung auf Besserung und neue Auszubildende

Flora Reiling hofft, dass sich auch in Zukunft viele junge Menschen finden, die den Beruf des Alten- oder Krankenpflegers ausüben möchten. „Man nimmt in diesem Beruf so viel für sich mit, bekommt sehr gute medizinische Kenntnisse und arbeitet in tollen Teams. Trotz der schlechten Bedingungen erfüllt mich dieser Job, der Emotionen in alle Richtungen freisetzt“, sagt sie.

Mit ihrem Engagement möchte sie dazu beitragen, dass sich auch die Arbeitsbedingungen ändern. Ein erster Schritt auf dem langen Weg ist gemacht. „Ich hoffe, dass es sich in fünf Jahren deutlich gebessert hat“, sagt Flora Reiling. „Aber ich glaube noch nicht daran.“