Bochum. In der Lerschstraße stehen noch heute einige der am besten erhaltenen Häuser der alten Arbeiterkolonie. Im zweiten Weltkrieg wurde ein Großteil der Siedlung zerstört. Nur wenige Gebäude blieben im Originalzustand erhalten. Für sie gibt es heute eine Denkmalschutzsatzung.

Es ist nicht nur die Straße, es ist die ganze Siedlung, die sich sehen lassen kann. Ein Teil Stahlhausens wurde 2011 unter Denkmalschutz gestellt. Die älteste Stahlarbeiter-Siedlung in Bochum zeugt mehr als jede andere von der industriellen Vergangenheit der Stadt und gilt in dieser Hinsicht als herausragend im gesamten Ruhrgebiet.

Die Straße, um die es gehen soll, war eine der frühen Wohnstraßen für die Stahlarbeiter des Bochumer Vereins. Die Sackgasse geht von der Baarestraße ab und kommt mit ihren zwölf Hausnummern bescheiden daher. Wären da nicht die alten Backsteinbauten, allen voran das schmucke Eckhaus (1), dessen eine Hälfte an der Baarestraße liegt (2). Dort lebt seit 1959 Lydia Kusch. Ihr Mann war als Funkenprüfer im Stahlwerk tätig. Vom Klang des Stahlhammers im Werk können Alteingesessene wie die 85-Jährige bis heute berichten.

Wirklichkeit widerspricht Image

Die Tassen hätten manchmal auf dem Tisch gewackelt, wenn er schlug, berichtet Lydia Kusch. „Sie haben ihn hinterher aber gar nicht mehr gehört. Das ist wie mit einer Straßenbahn, die Sie vor der Tür haben – irgendwann hören Sie die auch nicht mehr“, erläutert die alte Dame. Mit ihrem Ehemann Hermann zog Lydia Kusch in diesem Haus sieben Kinder groß, die ihr bis heute zehn Enkel und fünf Urenkel bescherten. „Das sechste ist unterwegs“, freut sie sich. Ihr Mann ist 1982 gestorben, doch ihr drittältester Sohn Martin wohnt bis heute im Elternhaus.

Anfang der 90er Jahre wurde das Haus renoviert und wird mittlerweile von der Deutschen Annington vermietet. Auch in den anderen Ziegelsteinbauten an der Lerschstraße leben zum Teil Familien, dessen Wohnrecht auf die Zeit des Bochumer Vereins zurückgeht. Erbaut um 1890, stehen fast alle Häuser in der Lerschstraße seit 1991 unter Denkmalschutz (3, 4, 5). Die Sackgasse ist sozusagen das Prunkstück der ehrwürdigen Siedlung Stahlhausen. Umso bedauerlicher, dass der Stadtteil, trotz des Stadtumbaus West, noch immer mit einem Image kämpft, das von sozialem Missstand und Dunkelheit erzählt. Bei einem Besuch an der Lerschstraße ist von solchen Bildern nichts zu sehen.

Am Ende der Straße steht ein Zaun. Kurz dahinter können 120 Kinder auf dem Spielplatz der Kindervilla Pfiffikus spielen. In dem Kindergarten ist im Februar 2014 auch die Kindervilla Stahlhausen der Ifak aufgegangen, die bis dahin in dem Eckhaus an der Lerschstraße beheimatet war.

"Am Anfang war es nicht leicht"

Die 1974 so genannte „Initiative zur Förderung von ausländischen Kindern“ (Ifak) wurde hier an der Lerschstraße gegründet. „Herbert Siebold hat damals Kontakt zu Krupp aufgenommen, und uns wurde das Haus als Ort für unsere Initiative zur Verfügung gestellt“, berichtet Ulrich Pieper. Er war einer von acht Schülern um den Lehrer Siebold an der Graf-Engelbert-Schule, der sich für Kinder meist türkischer Gastarbeiter engagierte. „Unser Religionslehrer hat uns dafür sensibilisiert, dass immer mehr türkische Kinder in der Stadt sind und keines dieser Kinder bei uns auf dem Gymnasium war“, berichtet er.

Zahlen & Fakten

Personen. In der Lerschstraße sind 32 Anwohner gemeldet, davon 13 weibliche. Hier leben vier Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, 23 Anwohner sind zwischen 18 und 65 Jahre alt und fünf Anwohner sind Senioren ab 65.

Statistik Die Lerschstraße ist 94 Meter lang und verzeichnet 12 Hausnummern.Die Lerschstraße liegt im Stadtbezirk Mitte und gehört zum Ortsteil Kruppwerke.

In der Lerschstraße ist ein Gewerbe angemeldet, eine Versicherungsvermittlung.

Die Straße ist über die Haltestelle Jacob-Mayer-Str./Jahrhunderthalle erreichbar. Es halten die Straßenbahnen 302 und 310.

Pieper war dann der erste Zivildienstleistende im Ifak-Haus. „Am Anfang war es nicht leicht, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Meistens hat es über die Kinder funktioniert, die Kontakt zu uns suchten“, berichtet Pieper. An der Lerschstraße fanden die Kinder und Jugendlichen in Lerngruppen, Bastel- und Bauprojekten oder Tanzstunden eine erste Anlaufstelle in Stahlhausen. Die Nachbarin in der Villa, Lydia Kusch, fand diese Zeit schwierig. „Die Halbstarken saßen in den Fensterbänken – zweimal haben sie mir den Telefonanschluss ‘rausgerissen, weil der ja drüben war“, schildert sie.

Doch böses Blut zu schaffen, davon ist die freundliche Frau weit entfernt, und der Kindergarten im Haus ab 1996 störte die zehnfache Oma „gar nicht.“ Der Kontakt zur Nachbarschaft sei „supergut“ gewesen, sagt auch Stephanie Schoenfeld, die die Kindervilla acht Jahre leitete.

Ifak möchte Villa weiter nutzen

Für Nejla Elif Usta (54), die seit 1991 für die Ifak arbeitet, war die Kindervilla ein besonderer Ort. „Die Werte in der Villa waren unabhängig von Religion und Partei. Bei uns haben sich Flüchtlingsfamilien, die teilweise traumatisiert hier ankamen, das erste Mal willkommen gefühlt“, sagt sie. Seit dem Umzug des Kindergartens steht die Villa leer, das Leben dort still. Ulrich Pieper hängt an dem Haus. „Wir sind mit dem Vermieter im Gespräch und denken über eine Verwendung nach“, versichert er. Aufgaben gibt es in einem Stadtteil mit vielen Nationalitäten, auch aus dem arabischen und afrikanischen Raum, denkbar viele. An der Lerschstraße, so erzählt es die Vergangenheit, lassen sich Berge versetzen.

Straßenname verweist auf Schriftsteller

Der Straßenname erinnert an den in Mönchengladbach geborenen Schriftsteller Heinrich Lersch (1889-1936), der Anfang des 20. Jahrhunderts überregional bekannt war, und der heute fast vergessen ist.

Lersch beschrieb in seinen Gedichten und Büchern, die Titel wie „Mensch in Eisen“ oder „Hammerschläge. Ein Roman von Menschen und Maschinen“ trugen, die Härte des Arbeiterdaseins in der fortschreitenden Mechanisierung. Heinrich Lersch galt als Schriftsteller – neben seiner anfangs eher sozialistischen Ausrichtung – als Vertreter eines katholisch geprägten Expressionismus.

"Gelöbnis treuester Gefolgschaft"

Der Künstler ist heute nicht unumstritten, weil er sich in seinen Arbeiten zunehmend politischen Themen zuwandte und in verschiedenen Gedichten den im Aufschwung begriffenen Nationalsozialismus verherrlichte. Gleich nach der „Machtergreifung“ Hitlers wurde Lersch im Mai 1933 in die Preußische Akademie der Künste berufen. Im selben Jahr gehörte er zu den 88 deutschen Schriftstellern, die das „Gelöbnis treuester Gefolgschaft“ für den „Führer“ Adolf Hitler unterzeichnet hatten.

Heinrich Lersch starb 1936 in Remagen im Alter von 46 Jahren an Lungenentzündung.