Bochum. . Die 85-jährige Christel Foell liest an jedem Weihnachtsfest den bewegenden Brief ihres damals 22 Jahre alten Bruders aus Stalingrad 1942. Es war sein letztes Lebenszeichen. Sein Brief mit Weihnachtsgrüßen kam „aus der unendlichen Weite der winterlich-trostlosen Steppe zwischen Wolga und Don“.

„Heiligabend, im Felde 1942“ – so beginnt der Brief des damals 22 Jahre alten Wolfgang Melz aus Stalingrad im Jahre 1942. Es ist eine Feldpost, die seine Schwester, die 85-jährige Bochumerin Christel Foell aus Ehrenfeld, seit Jahrzehnten regelmäßig zum Weihnachtsfest hervorholt und in einer stillen Stunde liest. „Ich weiß, was mich erwartet in dem Brief, ich kenne ihn ja fast auswendig. Und jedes Mal bin ich zu Tränen gerührt. Das ganze Elend der Kriegsjahre kommt wieder hoch“, sagte sie im Gespräch mit der WAZ.

Der Brief ist ein Dokument der Menschlichkeit inmitten der Unmenschlichkeit des Krieges, verfasst mitten in einem Inferno der Grausamkeit und der Sinnlosigkeit. „Meine Lieben“, schreibt der junge, vom Naziregime bereits zu Kriegsbeginn eingezogene Journalist auf Durchschlagpapier. „Zur Stunde des hl. Abend gedenke ich von ganzem Herzen Eurer und sende Euch aus weiter Ferne, aus der unendlichen Weite der winterlich-trostlosen Steppe zwischen Wolga und Don, die allerherzlichsten Weihnachtsgrüße. Eine echte, schlichte Soldatenweihnacht ist es, die wir im Raum von Stalingrad heute begehen.

Im Kreise der Kameraden sitze ich im gemütlich-warmen Bunker, den der draußen tobende Schneesturm wieder fast völlig zugeweht hat. Die herrlichen alten deutschen Weihnachtslieder haben wir gesungen... Nun ist eine feierliche Stille in uns: jeder geht seinen Gedanken nach, die ihn völlig in ihren Bann ziehen. Unser bescheidener Weihnachtsbaum erstrahlt in so gütigem, hoffnungsvollen Glanze, daß wir ganz die ernste, rauhe Wirklichkeit, in der wir leben, alles Schwere unseres Frontalltags vergessen können.“

„Ich hoffe nicht, dass er in Gefangenschaft gekommen ist“

Der anderthalb Seiten lange Brief war das letzte Lebenszeichen, das seine Familie von ihm bekommen hat. Seitdem ist er verschollen. „Ich hoffe“, sagt Christel Foell, „dass er beim Einsatz ohne große Verwundung getötet worden ist. Ich hoffe nicht, dass er in Gefangenschaft gekommen ist. Dieser Gedanke wäre für mich grauenvoll.“ Denn viele seien dort bei Arbeiten in Bergwerken, halb verhungert, durch Erschöpfung umgekommen.

1942 hatte ihr Bruder bereits das zweite Weihnachtsfest in Russland aushalten müssen. Das massenhafte gegenseitige Töten und das Sterben dort war längst Alltag, die Versorgung immer knapper. „So hart auch die Gewißheit sein mag“, schreibt der Soldat, „in dieser Stunde keinen Gruß, kein liebes Wort von den Lieben daheim in den Händen zu haben, so ist uns die Tatsache, gesund zu sein und im warmen Bunker bei Kerzenschein des Weihnachtsbaumes mit einem übervollen Herzen an alles, was uns lieb und teuer ist, denken zu dürfen, Trost und Weihnachtsfreude genug.“

„Ein beglückendes Gefühl, sich auf diesem Wege mit Euch unterhalten zu können“

Es sei ihm, fährt der 22-Jährige fort, „ein beglückendes Gefühl, sich auf diesem Wege mit Euch, meine Lieben, unterhalten zu können. Ihr werdet jetzt wohl ebenfalls unter dem Lichterbaum sitzen und Eure Gedanken und Wünsche nach dem Osten senden. Wie freue ich mich schon auf die erste Post von Euch, die jetzt leider sehr lange ausbleiben musste“.

Der Brief ging nach Niederschlesien, wo Christel Foell mit ihrer Familie damals lebte. Nach der Flucht 1945 nach Füssen zog die Arzthelferin 1952 der Liebe wegen nach Bochum. „Der Brief“, sagt sie, „hat die Flucht, alles überlebt. Für meine Mutter war er ein Heiligtum – weil danach nichts mehr kam.“