Bottrop. . Bottroper Familien bewahren die Feldpost der Soldaten, die Weihnachten im Kessel von Stalingrad verbringen mussten, wie einen kostbaren Schatz. Die WAZ durfte einen Blick in die Festtagsgrüße werfen – Briefe voller Hoffnung und Verzweiflung.

Weihnachten 1942 fand Heinrich Henning noch Worte, die voller Hoffnung waren. Dabei gab es da schon kaum noch Hoffnung für die hungernden, frierenden, entkräfteten Soldaten im Kessel vor Stalingrad. Aber der 33-jährige Soldat schreibt von einer Weihnachtsfeier, die „noch steigen soll“, von Getränken „wir vier erhielten noch eineinhalb Fl. Steinhäger, eine halbe Fl. Rum.... Die Nacht lag still, nur der eisige Ostwind pfiff sein eintöniges Lied über die Steppe.“

Noch heute, 71 Jahre später, schnürt es dem Leser den Atem ab. Heute wissen wir, dass es Unmenschliches war, was die jungen Männer durchlebten. Aber sie schrieben es nicht. Und dafür gab es Gründe: zum einen die Zensur durch die Feldpostprüfung; zum anderen die Sorge: Sie wollten ihre Familien nicht beunruhigen.

Stalingrad, das war die berüchtigtste Schlacht des Zweiten Weltkriegs. Im November 1942 wurden nach dem deutschen Angriff 230 000 Soldaten von der Roten Armee eingekesselt. Fast 100 000 von ihnen gerieten Anfang 1943 in Gefangenschaft, nur 6000 Männer kehrten zurück.

Stalingrad als Schicksal

Stalingrad ist bis heute eng mit dem Schicksal Tausender Familien verwoben -- mit den Eltern dieser Soldaten, mit der Generation ihrer Kinder, und Stalingrad lässt auch die Enkel nicht los. Wohl auch deshalb haben sich auf unseren Aufruf so viele Leser gemeldet, die die Feldpost ihrer Angehörigen hüten wie einen Schatz. Wenn sie davon erzählen, dann brechen auch heute noch, so viele Jahre später, alte tiefe Wunden wieder auf.

Schon im November 1942 schickte Heinrich Henning seine Weihnachtsgrüße an seine Familie.
Schon im November 1942 schickte Heinrich Henning seine Weihnachtsgrüße an seine Familie. © WAZ FotoPool

Heinrich Henning gehörte zu einer Einheit, die Verpflegung und – was beinah ebenso wichtig für das Überleben war – Post zu verteilen hatte. Seine Briefe verwahrt seine heute 75-jährige Tochter Ilse Seippel. Heinrich Henning schrieb am 17. Dezember an seine Frau Sybille und seine beiden Kinder: „Die Verpflegung ist sehr knapp und dass bei dieser Kälte. Da verlangt der Körper nach viel Fett und gutem Essen. Und trotzdem wollen wir das gerne auf uns nehmen, wenn wir nur bald frei werden. Gestern und heute war es sehr kalt, dabei gestern neblig mit Schneesturm . . . “

Keine Päckchen

Am 22. Dezember schreibt er: „Nur noch wenige Stunden trennen uns von dem schönsten aller Feste, dem lb. Weihnachtsfest. .... Was ich in den letzten Tagen erlebe, ist einfach furchtbar....Unsere Lage ist unverändert. Der Wehrmachtsbericht vom 21. 12. sagte uns nichts Gutes. Wie da die Stimmung ist, kannst du dir vorstellen. Wir haben wohl alle einen moralischen Kater. Und nun haben wir bald Hl. Abend. Päckchen werden wir keine bekommen, das steht jetzt 100% fest.

Hoffentlich bekomme ich dann wenigstens einen Luftpostbrief.“

Hoffnung auf die Wende

Am 8. Dezember 1942 hatte Heinrich Henning noch geschrieben: „Wir hoffen täglich, dass wir heraus gehauen werden. Das muss schnellstens geschehen, da daran zu viel, ja entscheidendes abhängt. Du brauchst dir darob keine Sorgen zu machen, ... Ich bin ja nicht alleine, es sind weit über 100 000 Mann und dafür wird etwas getan. ... Unsere Verpflegung und der andere Nachschub kommt alles mit der Tante „Ju“. Bei einigermaßen Fliegerwetter kommt und fliegt sie Tag und Nacht. Die Verpflegung ist natürlich stark rationiert. Brot gibt es nur 200 g am Tag. Aber dies wollen wir eine Zeit gerne in Kauf nehmen, wenn wir schnell wieder frei kommen. Dann kommen ja auch all die schönen Weihnachtspäckchen, von denen du schreibst, an. Diese Päckchen vermissen wir ja gerade jetzt.“ Am 19. 12. schrieb er: „Verpflegung holen wir neuerdings mit dem LKW, ... Das Pferdematerial hat stark nachgelassen, viele sind geschlachtet worden. ... auch Kamele werden bereits geschlachtet.“

Heinrich Henning starb im März 1943 in einem russischen Durchgangslager.

Antonius Löns wünscht sich sehnlichst Essbares

Franz Löns liest in den Briefen, die sein Bruder 1942 schrieb.
Franz Löns liest in den Briefen, die sein Bruder 1942 schrieb. © WAZ FotoPool

Antonius Löns aus Kirchhellen war 30 Jahre alt, als er in Stalingrad war. Sein heute 86-jähriger Bruder Franz bewahrt die Briefe sorgfältig auf. Antonius Löns galt bis Oktober 2013 als vermisst. Die Mutter habe es nicht gewollt, ihn für tot erklären zu lassen, erzählt Franz Löns. Sein Enkel forscht über das DRK nach dem verstorbenen Großvater.

Weihnachten 1942 schreibt Antonius Löns: „Liebe Mutter u. Geschwister, habe von Euch noch keine Post erhalten, ist aber so, dass nur Briefe durchkommen. Bin hier noch recht gesund und munter, .... Eine traurige Weihnacht ist auch voll eingetreten, wie es hier richtig ist, kann ich Euch nicht mitteilen. Schickt mir ruhig Pakete, und wenn es nur Brot ist, es kann aber auch Kuchen sein, denn das steht noch besser im Magen. Es wird doch die Zeit kommen, dass wir diese noch bekommen. Ich bin mächtig runtergekommen, kann ja nicht ausbleiben bei der Verpflegung, aber man soll die Hoffnung nicht aufgeben. Es wird auch nochmal eine andere Zeit kommen. Ich habe hier die Nase gestrichen voll. Es dauert eben zu lange. Sonst ist alles beim Alten. Viele Grüße an Mutter u. Geschwister sendet Dein Sohn Anton.“

Antonius Löns starb am 1. April 1943. Er ist wohl verhungert.

Ursula Bödeker liest häufig an Weihnachten die Briefe des Vaters

Ursula Bödeker liest die Briefe des Vaters aus Stalingrad
Ursula Bödeker liest die Briefe des Vaters aus Stalingrad © Winfried Labus/WAZ-FotoPool

Ursula Bödeker aus Kirchhellen hat kaum Erinnerungen an ihren Vater Heinrich Eydam. Aber sie weiß noch genau wie das war, wenn ihre Mutter damals die Feldpost ihres Mannes las. „Heute weiß ich, warum die Mutter immer geweint hat“, sagt die heute 73-jährige Tochter. Weihnachten, sagt sie, hole sie die Briefe des Vaters immer vor. Auch sie hat den Schmerz über sein Schicksal nicht verwunden.

Heinrich Eydam, er war Bergmann in Bochum, malte liebevoll einen Tannenzweig mit einer kleinen Glocke auf das Briefpapier. Dazu schrieb er am 23.11.: „Werde nun aus meiner Endstelle ein paar Zeilen senden. In Stalingrad, direkt am Fuße der Wolga, liege ich... Nach hier kannst Du Liebste schicken, was ein Landserherz erfreut, denn hier ist gar nichts zu haben, das einzige, was du hier kriegst, das sind Läuse, eben habe ich erst eine geknackt.“ Und Anfang Dezember: „Es ist hier jetzt Winter, es schneit, friert, es ist an manchen Tagen lausig kalt hier. Die Wolga ist zwar noch nicht zugefroren, wir wünschen uns auch, dass sie in diesem Winter offen bleibt, das wäre für uns ein schönes Glück. Wie es hier so aussieht, kann man ja nicht so schreiben, man muss es sehen und erleben. Bei uns Landsern herrscht augenblicklich nur ein Thema, das ist Weihnachten.“

Heiligabend schreibt er: „Von Post habe ich bis jetzt noch nichts gesehen und gehört und sie nicht lesen können. Habe am Radio unser Lied, O Tannenbaum angehört und bin noch in Gedanken bei Euch. Wie war Euch zumute bei dem Lied, hab an Gott und an mich gedacht.“

Heinrich Eydam starb Ende 1942 oder Anfang 1943 in Stalingrad.