Essen-Schönebeck.. Das Schönebecker Ehepaar Ingrid und Lothar Henning freut sich über Karten des Onkels, die dieser zwischen 1944 und 1946 aus England und den USA schickte und die damals ihr Ziel nicht erreichten. Jetzt wollen sie die Feldpostbriefe an die Tochter des Onkels weiterleiten.
Die Freudentränen kann und will Lothar Henning nicht wegdrücken. Er ist einfach überwältigt von den kleinen Kärtchen, welche die Handschrift seines Onkels Herbert Moderhack tragen. Es sind einige Postkarten aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft – abgeschickt zwischen Februar 1944 und Sommer 1946. Sie haben ihre Empfänger in Neustettin nie erreicht. „Mit dem Vordringen der Roten Armee Richtung Westen sind alle geflohen“, blickt Lothar Henning auf ein bewegtes Familienleben zurück. Nach mehr als 65 Jahren ist die Gefangenenpost nun doch angekommen. Und die Familie will sie bald an die Tochter des Kartenschreibers übergeben, „wenn wir sie besuchen“.
„Das so etwas immer noch möglich ist“, freut sich Lothar Henning. „Die Karten sind weder angegilbt, noch verknickt. Sie duften ein wenig nach altem Papier.“ „Das war für uns eine echte Überraschung“, fügt seine Frau Ingrid hinzu. Nun warteten die Verwandten bereits auf die Post, von deren Existenz sie bis vor einigen Tagen noch gar nichts wussten.
Öffnung polnischer Archive
Dass die Hennings diese Erinnerungsstücke der Familiengeschichte überhaupt bekommen haben, verdanken sie der Öffnung der polnischen Archive und der Mitgliedschaft im Pommerschen Heimatverband „Mein Neustettiner Land“. Dieser verschickt viermal im Jahr seine Mitgliedszeitschrift mit Nachrichten und Geschichten aus Neustettin. „Darin habe ich gelesen, dass der Verein zahlreiche Briefe und Karten aus der Kriegszeit hat. Daneben stand eine Namensliste mit den Absendern“, beschreibt Lothar Henning.
„Als ich dann noch den Namen meines Onkels dort las, war doch klar, dass wir uns kümmern mussten.“ Also hat Ingrid Henning sofort eine E-Mail geschrieben und an die angegebene Verbandsadresse geschickt.
„Wir wussten damals nur, dass Herbert Moderhack in Afrika war“
„Schon wenige Tage später hat uns eine Frau angerufen, und weitere Daten abgefragt, die nur wir als Familienmitglieder wissen konnten“, erklärt Ingrid Henning. „Und als wir alles übereinstimmend beantwortet hatten, haben wir die Zusage bekommen. Dann hat es noch ein paar Tage gedauert, bis der Bote einen Brief mit der Gefangenenpost bei uns abgab“, fügt Lothar Henning hinzu.
Richtig erinnern kann er sich an diese Jahre zwar nicht mehr – „ich war damals vier Jahre“ –, aber der Krieg und seine schlimmen Wirren seien ein wichtiger Teil der Familiengeschichte, welcher bisher nur aus Erzählungen bestand. Nun gehören dazu auch einige, kleine Erinnerungsstücke. „Wir wussten damals nur, dass Herbert Moderhack in Afrika war – als Obergefreiter. Dass er schon 1944 in britischer und dann in amerikanischer Kriegsgefangenschaft war, davon hatte die Familie keine Ahnung“, sagt Lothar Henning.
Dann musste seine Familie das Haus an der Pommernstraße in Neustettin verlassen, floh über Rostock nach Krempe (nahe Glückstadt) in Norddeutschland. Der Suchdienst des Roten Kreuzes hat dann die Familienmitglieder bis 1948 wieder zusammengebracht. Dazu gehörte auch Herbert Moderhack, als er aus der Gefangenschaft entlassen worden war. Sie zogen dann alle in die Gegend von Stuttgart, „weil es dort damals für alle Arbeit gab“. Lothar Henning besuchte noch die Schule.
Eine ganz besondere Dorfgemeinschaft
Dass er eines Tages dem Schwabenland seinen Rücken zeigte, „hat die Liebe geschafft“, schmunzelt er mit seiner Frau. Beide fühlen sich in Schönebeck sehr wohl. „Aber Du bist erst im Schützenverein wirklich aufgenommen, wenn Du Oberst geworden bist. Die Zeit davor zählt fast nicht“, beschreiben die Hennings diese besondere Dorfgemeinschaft, in der fast jeder jeden kennt. Und selbst seine längst schwäbische Verwandtschaft habe inzwischen eingesehen, dass das „Ruhrgebiet mindestens genau so grün ist wie die Alb und sich hier niemand häufiger zu waschen braucht“.
Für das nächste Jahr haben die Hennings zwei Reiseziele anvisiert. Die erste Tour geht nach Süden zur Tochter seines bereits verstorbenen Onkels Herbert Moderhack. Die zweite Tour geht Richtung Osten nach Neustettin. „Wir wollen noch einmal die Pommernstraße besuchen und nachsehen, wie es heute dort aussieht.“ Vieles habe sich längst normalisiert und der Bürgermeister arbeite mit dem Heimatverein gut zusammen.
Zenzierte Zeilen
Lange Briefe durften die Soldaten damals aus der Gefangenschaft nicht schreiben. „Es sind nur Postkarten, weil sie gegengelesen wurden“, sagt Ingrid Henning. „Es geht mir gut“, steht auf allen Karten, die Herbert Moderhack aus England und den Vereinigten Staaten an seine Familie schrieb. „Es durfte ja nur Positives draufstehen“, fügt Lothar Henning hinzu. Dass diese Karten niemals seine Familie im Haus an der Pommernstraße in Neustettin erreichten, konnte Herbert Moderhack nicht wissen. So schrieb er ebenfalls immer wieder: „Es wäre schön, einmal etwas von Euch zu hören.“ oder „Schreibt doch bitte mal zurück.“ Aber wie er sich wirklich fühlte, wie das Leben im Gefangenenlager tatsächlich war, davon steht kein Wort auf diesen Postkarten. „Das kann man nur zwischen den Zeilen erahnen“, sagt Lothar Henning.
Vom 28. Juli 1946 datiert ist das letzte Dokument, das Herbert Moderhack abgeschickt hat und das nicht mehr in Neustettin zugestellt werden konnte. „Ein Mitglied der geschlagenen Wehrmacht sucht seine Angehörigen“, steht gedruckt auf der Suchkarte des Roten Kreuzes. Mit den Karten aus der Gefangenschaft hat sie in einem polinischen Archiv die Jahrzehnte überdauert, bis sie dem Heimatverein „Mein Neustettiner Land“ übergeben wurden. Die mehr als 600 Briefe und Karten der so genannten „Gefangenenpost“ wurden ab 1944 von gefangenen deutschen Soldaten aus vielen Kriegsgebieten an Angehörige in Neustettin gerichtet. Sie haben diese aber nicht erreicht.
Der Heimatverein möchte die Dokumente nun an die noch lebenden Familienangehörigen oder deren Nachkommen weitergeben. Infos und Kontakt per E-Mail an mein-neustettiner-land@web.de