Bochum. . Auch zwei Tage nach dem schrecklichen Absturz eines jugendlichen Kletterers auf einer alten Industriebrache ist das Gelände nur unzureichend gesichert. Die Stadt will dort einen „Industriewald“ wachsen lassen.

Die Stadt spricht von einem „Industriewald“. Man könnte aber auch Dschungel sagen: Wild, aufregend, aber vor allem lebensgefährlich.

Der Dschungel ist eine Brache, die früher zu den Vereinigten Schmiedewerken gehörte. Sie liegt mitten in der Innenstadt, nur 200 Meter von einer Hauptschlagader Bochums, dem Westring, entfernt und direkt an der Glückauf-Bahn. Dort war am Samstag ein 16-Jähriger bei einer waghalsigen Kletteraktion vom Dach einer zwölf Meter hohen Industrieruine gestürzt. Für ihn war sie wohl ein Abenteuerspielplatz.

Die Absturzstelle. Links im Bild: Abgeschälte Kabel und massenhaft leere Katzenfutterdosen..
Die Absturzstelle. Links im Bild: Abgeschälte Kabel und massenhaft leere Katzenfutterdosen.. © Gero Helm / WAZ FotoPool

Zurzeit ist so ein Unfall jederzeit wieder möglich. Das mehrere tausend Quadratmeter große Gelände ist für jedermann problemlos zugänglich. Zwar schützen Zäune mit Nato-Draht das Areal, aber es gibt mehrere, vorsätzlich gebaute Schlupflöcher. Selbst Fußlahme würden dort durchkommen. Trotz des Kletterunglücks - der abgestürzte Junge kämpft weiterhin mit äußerst schweren Verletzungen - waren die Löcher auch am Dienstag noch völlig offen. Auf Schildern am Zaun steht: „Lebensgefahr! Betreten des Geländes verboten! Die Bürgermeisterin.“ Doch Graffiti-Fans haben die Schilder großteils bis zur Unkenntlichkeit übersprüht.

Auch am Dienstagmittag noch offen: Ein großes Loch klafft im Zaun zum „Industriewald“.
Auch am Dienstagmittag noch offen: Ein großes Loch klafft im Zaun zum „Industriewald“. © Gero Helm / WAZ FotoPool

„Lebensgefahr“ herrscht auf der Brache auf Schritt und Tritt. Mit den Armen kämpft man sich durch meterhohen Wildwuchs, unwissend, ob man nicht plötzlich in eine Grube oder einen Schacht fällt, der von Grünzeug überwuchert ist. Nur wenige Meter hinter dem Zaun taucht die Ruine eines mächtigen Hallenkomplexes auf. Sie sieht aus, als würde sie beim nächsten Gewitter zusammenkrachen. Wuchtige Teile aus Stahl, Glas und Holz hängen wie Fallobst unter dem Dach, das von der Witterung so zerfetzt ist wie eine Spieldecke für Hunde. In zehn Metern Höhe hängt ein Kran, darauf steht: „Benrather Masch.-Fabrik 1907. Tragfähigk. 10 t.“ Wären nicht überall Graffiti, man könnte denken: Hier war seit Jahrzehnten kein Mensch. Nur das Rascheln einiger Vögel im Dreck unterbricht die Totenstille.

Kletterdrama

An für sich gut gesichert: Ein 2 m hoher Zaun und Stacheldraht umgeben das Gelände.
An für sich gut gesichert: Ein 2 m hoher Zaun und Stacheldraht umgeben das Gelände. © Gero Helm / WAZ FotoPool
Hier überwanden die Jugendlichen wohl den Zaun.
Hier überwanden die Jugendlichen wohl den Zaun. © Gero Helm / WAZ FotoPool
Der Weg zu der Halle führt durch mannshohen Wildwuchs von Sträuchern.
Der Weg zu der Halle führt durch mannshohen Wildwuchs von Sträuchern. © Gero Helm / WAZ FotoPool
In dieser verfallenen Industriehalle ereignete sich der Unfall.
In dieser verfallenen Industriehalle ereignete sich der Unfall. © Gero Helm / WAZ FotoPool
Unbekannte haben die unverschlossene Halle schon vielfach für Graffiti und Müllentsorgung benutzt. Direkt neben der Absturzstelle liegt zum ein riesiger Haufen leerer Tierfutterdosen.
Unbekannte haben die unverschlossene Halle schon vielfach für Graffiti und Müllentsorgung benutzt. Direkt neben der Absturzstelle liegt zum ein riesiger Haufen leerer Tierfutterdosen. © Gero Helm / WAZ FotoPool
Hier muss der Junge eingebrochen sein, denn direkt unter dem 50 mal 50 Zentimeter großem Loch im Dach liegen eine Jeans, Turnschuhe und die Infusionsreste samt Einweghandschuhe des Notarztes.
Hier muss der Junge eingebrochen sein, denn direkt unter dem 50 mal 50 Zentimeter großem Loch im Dach liegen eine Jeans, Turnschuhe und die Infusionsreste samt Einweghandschuhe des Notarztes. © Gero Helm / WAZ FotoPool
Ganz oben im Dach (roter Pfeil) erkennt man das Loch durch den der 16-Jährige in die Halle eingebrochen ist.
Ganz oben im Dach (roter Pfeil) erkennt man das Loch durch den der 16-Jährige in die Halle eingebrochen ist. © Gero Helm / WAZ FotoPool
Nur eine dünne Schicht Dachpappe verdeckte das Loch im Dach.
Nur eine dünne Schicht Dachpappe verdeckte das Loch im Dach. © Gero Helm / WAZ FotoPool
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© Gero Helm / WAZ FotoPool
Die Feuerwehr mußte ein 1,5  m x 2 m großes Loch in den Absperrzaun schneiden um den schwer verletzten Jugendlichen in der Nacht abtransportieren zu können.
Die Feuerwehr mußte ein 1,5 m x 2 m großes Loch in den Absperrzaun schneiden um den schwer verletzten Jugendlichen in der Nacht abtransportieren zu können. © Gero Helm / WAZ FotoPool
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© Gero Helm / WAZ FotoPool
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Das Areal ist auch total vermüllt. Beispiele: ein Fernseher, Autoreifen, Sprühdosen, zermatschte Kleidung, ein Haufen mit rund 1000 leeren Katzenfutterdosen, Lebensmittelreste. Hat dort einmal eine arme Seele gehaust? Kupferdiebe waren auch da: Massenhaft liegen geschälte Kabel herum.

„Rückbau der sehr maroden Produktionshallen ist nicht mehr vorgesehen“

Eigentümer ist die Stadt. In den 90er-Jahren hatte sie das Areal mit Fördermitteln des Landes für einen Millionenbetrag von den Schmiedewerken (VSG) gekauft. Geplant war, das Areal für neue Gewerbebetriebe aufzubereiten. Doch das zerschlug sich, weil die Erschließung viel zu teuer ist. Die Zugänglichkeit von öffentlichen Straßen ist miserabel. Um das Fördergeld nicht zurückzahlen zu müssen, vereinbarte die Stadt mit dem Land, stattdessen einen „unzugänglichen Industriewald“ wachsen zu lassen. In einer aktuellen Verwaltungsvorlage heißt es weiter: „Auch der Rückbau der teilweise sehr maroden Produktionshallen ist nicht mehr vorgesehen.“

Die Stadtverwaltung will jetzt mit dem „Landesbetrieb Wald und Holz“ einen Vertrag abschließen mit dem Ziel, den „Industriewald“ zu pflegen - und auch besser zu sichern.