Bochum. Ensemblemitglieder des Schauspielhauses und zwei Busladungen Zuschauer verbrachten die kürzeste Nacht des Jahres im Freien: „Im Wald. Nachts." hieß das sensationsreiche Mitternachtsprojekt von Elmar Goerden zum K15-Theaterfestival.

Festes Schuhwerk, eine Taschenlampe, eine Karte. Der Intendant gibt im Bus noch letzte Anweisungen: besser man gehe alleine oder zu zweit, benutze die Taschenlampe nur für die Wege und rede möglichst wenig.

Dann, nach 20 Minuten Fahrt, verlässt man den Bus irgendwo im Niemandsland zwischen Bochum, Dortmund und Witten und geht in den Wald. Man steckt als Berichterstatter im Zwiespalt. Die Überraschung, die plötzliche Konfrontation, die Irritation sind ästhetisches Konzept. Man möchte, man sollte nicht zu viel verraten. Dennoch: Was ist zu sehen? Da ist der Wald, gerade groß genug, dass man sich darin verlaufen kann, groß genug, dass sich darin gut zwei Dutzend Szenen, Monologe, Lieder und Soundinstallationen unterbringen lassen. Und auch weitläufig genug, dass die Besucher sich nicht gegenseitig auf den Füßen stehen.

Entdeckungen machen

Man geht umher und macht Entdeckungen. Dort singt einer mitten im Kornfeld zur Gitarre, eine musikalische Vogelscheuche; wenige Meter weiter steht einer und hält einen donnernden Vortrag Thomas Bernhards über das Theater. Schon von weitem hört man die Stimme von Franziska Dannheim, die Arien singt - natürlich auf einer Schaukel sitzend, wie man alsbald sieht. Schnell benötigt man die Taschenlampe nicht mehr, schreitet sicherer und vertrauter durch den Wald, Irritation und Angst weichen der Entdeckerlust. Und es gilt, zu entdecken in den 90 Minuten, die bis zur Abfahrt der Busse eingeräumt sind. Ein König Lear hastet mühevoll, mit einem Rollstuhl vor sich, durchs unwegsame Gelände.

Im Rinnsal ein Bett

An einem Steg spielt Andres Bittl Akkordeon, im Rinnsal darunter ein Bett, darin Elisabeth Hart, daneben ein ausgestopftes echtes Krokodil. Ihr schonungsloser Monolog veranlasst kleine Gruppen zu verharren. Das Einlassen auf die Texte, auf die Darsteller ist ein Problem, zieht einen die Neugier doch weiter ins Dunkle, manchmal ins Dickicht.

Grandios sind die Schauspieler in Szene gesetzt, die natürlichen Gegebenheiten ausnutzend und diese durch eine bisweilen spektakuläre Lichtregie verstärkend. Manche Szenen sieht man zunächst von einer Anhöhe herab, dann wiederum steht man mitten zwischen verlassenen Zelten. Oder eine Braut mit meterlanger Schleppe schreitet einem gespenstisch stumm entgegen. Ein natürlicher Dom aus Baumwipfeln wird mittels Strahlern von unten und den daraus resultierenden gigantischen Schattenspielen zur imaginierten Sixtinischen Kapelle, was für eine Idee!

Kleinen Pfaden folgen

Es lohnt, auch den kleineren Pfaden zu folgen. Zwar tun sich Wände aus Pflanzen vor einem auf, Baumstämme liegen quer über dem Weg, doch auch dort ist etwas zu finden: „der Schrank und die Kommode" steht in der Liste der „Protagonisten" auf dem Programmzettel. Und tatsächlich stehen die Teile am Wegesrand - als mysteriöse Sound-Installationen. Was ist darinnen, was sind das für Tierstimmen? Und dort: ein kleiner sich bewegender orangener Punkt mitten im Dunkel. Nein, das hat Goerden nicht inszeniert, da raucht ein Zuschauer einsam sitzend eine Zigarette.

Keine Waldbühne

Goerden hat aus der Natur keine Waldbühne gemacht. Vielmehr wuchert das Theater in den Wald hinein, ganz organisch. Nicht nur, wenn es thematisch passend im absurden Streitgespräch zwischen Jele Brückner und Ronny Miersch darum geht, ob dieser oder jener Baum denn gestern schon da gewesen sei. Der Wald wird zur Welt, einer verzauberten und surrealen zwar, dennoch zu einer komplexen gegenwärtigen. Ein begehbares dramatisches Tableaux vivants. Man kann kaum alles sehen, muss sich begnügen mit einem Ausschnitt des Nacht-stückes. Es ist außergewöhnlich, was Schauspieler, Techniker und künstlerische Leitung in dieser Nacht leisten. Für den Zuschauer könnte es ewig dauern.