Hagen. Alltagsdroge Alkohol: Eine Klinik in Dortmund wendet sich erstmals an jene, die zu viel trinken, ohne süchtig zu sein. Ein Betroffener berichtet.

Die Sache ist bis heute so etwas wie ein Geheimnis von Roland Meier. Nur drei Menschen kennen es: seine Frau, die jüngere Tochter, der Hausarzt mittlerweile auch. Die Freunde und Bekannten sollen nichts wissen und schon gar nicht die Nachbarn. „Man schämt sich“, sagt der Mann, der eigentlich anders heißt. Er schämt sich vor anderen. Und lange Zeit vor sich selbst. Dabei ist sein Problem eines, das viele Menschen in Deutschland haben. Ohne es zu wissen oder es sich einzugestehen: Er trinkt zu viel Alkohol, riskant viel, ohne dabei abhängig zu sein. „Ich habe mich und andere belogen“, sagt er heute.

Cannabis? Kokain? „Die wohl gefährlichste Droge ist der Alkohol“, sagt der Arzt

An all jene, die zu viel trinken und fürchten auf dem Weg in die Sucht zu sein, wendet sich eine deutschlandweit neuartige, ambulante Therapie namens „Früh-Intervention Alkohol“ (FrInta) an der LWL-Klinik in Dortmund-Aplerbeck. „Es geht darum, etwas zu tun, bevor sprichwörtlich das Kind in den Brunnen gefallen ist“, sagt Arne Lueg­, Chefarzt der Abteilung Suchtmedizin in Dortmund. Ein Angebot mit geringerer Hemmschwelle, mit geringerem Stigmatisierungsgrad. Im Kampf gegen ein Problem, das weit verbreitet ist.

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50 Betten hat Station P3 in Dortmund. Fast immer sind alle belegt. Amphetamine, Cannabis, Kokain – Lueg kennt die Gefahren der Rauschmittel. Doch er sagt: „Die wohl gefährlichste Droge ist der Alkohol. Das liegt daran, dass er legal verfügbar ist und – gerade in unserer Region – kulturell akzeptiert ist. Kaum eine Feier findet ohne statt. Und wenn man verzichtet, wird man komisch angeschaut und muss sich gut erklären können.“ Zudem mache Alkohol körperlich abhängig, der Entzug sei im Vergleich zu anderen Suchtmitteln schlimmer und gefährlicher. „Ein kalter Entzug kann fatal enden.“

„Am Ende habe ich zwei Flaschen Wein am Tag getrunken“

Roland Meier ist seit gut zehn Jahren Pensionär, ein Mensch von recht hagerer Gestalt, groß, noch heute macht er Sport, sein Auto sieht neu und teuer aus. Wenn er auf Fragen antwortet, dann wägt er seine Worte gut ab. „Zum Schluss“, sagt er, „habe ich jeden Tag zwei Flaschen Wein getrunken.“ Eine halbe mittags zum Essen, eine halbe im Laufe des Nachmittags, die zweite Flasche dann am Abend.

Seine Frau habe ihn irgendwann gefragt, ob er nicht darüber nachdenken könne, weniger zu trinken. Wie ein Warnsignal kam ihm das nicht vor, eher wie eine Unverschämtheit. „Ich habe das total abgeblockt. Ich hatte doch kein Problem, davon war ich überzeugt.“

Probleme haben ja immer nur die anderen. Aber es sind viele. Eine neue Studie derAOK NordWestzeigt, dass inWestfalen-Lippeim vergangenen Jahr die Ausfallzeiten aufgrund von Alkoholproblemensprunghaft gestiegen sind. In 2022 gingen fast 118.000 Arbeitstage bei AOK-Versicherten verloren – fast 25 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Dunkelziffer? Hoch. Laut einer Befragung des Robert-Koch-Instituts ist fast jeder dritte Erwachsene in NRW Rauschtrinker. Sie gaben an, in den letzten zwölf Monaten an mindestens einem Tag pro Monat sechs oder mehr alkoholische Getränke zu sich genommen zu haben.

Jeden Abend und jeden Morgen der Vorsatz: Heute trinkst du nichts

Alles fing an, als Roland Meier pensioniert wurde und freiberuflich weiterarbeitete. Fast mehr, aber in jedem Fall erfolgreicher als zuvor, wie er sagt. In den vergangenen zehn, zwölf Jahren trank er immer mehr und mehr. „Ich trank aus Gewohnheit. Und auch, um mich für meine Heldentaten zu belohnen“, sagt er voller Ironie. Aber es stimmt: Er feierte sich. Vielleicht, mutmaßt er, weil es ihm als Kind an Anerkennung fehlte. Du kannst nichts, du bist nichts, du wirst nichts – „so bin ich groß geworden“, sagt er.

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Jeden Abend und jeden Morgen bereute er die Menge, die er wieder getrunken hatte. Der abendliche Geschmack im Mund, der unruhige Schlaf, der Kater am Morgen. „Das fühlte sich miserabel an“, sagt er. „Abends und morgens früh habe ich mir geschworen, dass ich nichts mehr trinke. Aber mittags waren alle guten Vorsätze mit dem ersten Glas schon wieder über Bord geworfen.“ Er kann es selbst nicht erklären. „Man versagt jeden Tag.“ Mit beruflichem Erfolg kompensierte er diese Niederlagen – und stieß wieder mit sich an.

Vom Hobbysportler bis zur trauernden Witwe

Jeder hat seine eigene Geschichte. Chefarzt Arne Lueg erinnert sich an einen Hobbysportler, der nach den Spielen seiner Mannschaft so viel Bier trank, dass ihn die Frau daheim nicht mehr reinließ. Er nahm sich nach den Spielen ein Hotelzimmer. Eine andere Patientin trank gegen die Trauer an, weil ihr Partner verstorben war. Ein anderer gegen den Stress, weil die Mutter pflegebedürftig geworden war.

„Einen riskanten Konsum hat zum Beispiel jeder, der täglich mehr als 20 Gramm Alkohol zu sich nimmt“, sagt Lueg. Das entspricht einem halben Liter Bier. „Alkohol ein Zellgift, das Krebs erregend wirkt. Die Erzählung, dass ein Glas Rotwein am Abend gesund sei, ist Quatsch“, sagt Lueg. Gefährdet ist auch derjenige, der eine Affinität zu Alkohol hat und dessen Mutter oder Vater Alkoholiker war. Das Risiko, selbst abhängig zu werden, ist dann um 50 Prozent erhöht.

Im Mai 2022 meldete sich Roland Meier bei FrInta an, noch an dem Abend, an dem er einen TV-Beitrag darüber gesehen hatte. „Im Unterbewusstsein wusste ich, dass ich ein Leben führe, das ich nicht führen wollte. Dieses Programm war der Wink mit dem Zaunpfahl, den ich brauchte“, sagt der Hagener.

Sich selbst überwachen mit dem Trinktagebuch als App

Sechs ambulante Therapiestunden gehören zum Frühinterventionsprogramm, ein Team aus Ärzten, Therapeuten und Sozialarbeitern kümmert sich um die Betroffenen, vermittelt Wissen und Strategien zum Thema Alkoholkonsum. Nach drei Monaten folgt ein Abschlussgespräch. Zudem gibt es für die Zeit danach ein freiwilliges Gruppengespräch, das alle zwei Wochen stattfindet. Roland Meier geht dorthin. „Das ist so eine Art Anker für mich“, sagt er.

Seit Mai vergangenen Jahres führt er in einer App auf dem Handy ein Trinktagebuch (von der deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V.). Er wischt auf dem Display hin und her und zeigt seine Fortschritte. In Grün sind die Tage hinterlegt, an denen er nichts trinkt, mittlerweile vier, fünf Tage die Woche. An den anderen trinkt er zum Essen zwei Gläser Wein. Das sind etwas mehr als 20 Gramm Alkohol, die gerade noch zulässige Menge für ihn (Frauen: 12 gr). Grüner Balken. Alles, was darüber hinaus geht, wird in langen roten Balken dargestellt, zuletzt vor zwei Wochen. Drei Gläser seien es dort gewesen.

Seine Verlockungen habe der Alkohol nicht verloren, sagt Roland Meier, aber er habe sie nun besser im Griff. „Ich habe nochmal die Kurve gekriegt.“

<<< HINTERGRUND >>>

Insgesamt haben sich schon 90 Männer und Frauen für das Angebot angemeldet. Eingeladen sind alle, bei denen keine ausgeprägte Alkoholsucht vorliegt, die aber selbst befürchten, dass sich eine solche entwickeln könnte. „Wenn die Betroffenen ein wie auch immer geartetes alkoholbezogenes Problem erkennen, dass sie zum Beispiel versuchen, ihre Sorgen im Alkohol zu ertränken oder wenn sie von Freunden oder Familienmitgliedern daraufhin angesprochen wurden, dass sie zu viel trinken, dann könnte es helfen, zu uns zu kommen“, so Dr. Arne Lueg. „Egal, welche Probleme der Alkohol aufwirft, wir unterstützen dabei, die ganz persönliche Situation besser einzuschätzen und gegebenenfalls am Verhalten Änderungen vorzunehmen.“

Das Angebot ist Teil einer Studie zu möglichen sogenannten Frühinterventionen in Einzel- oder Gruppentherapien. Die Therapie umfasst ein sechswöchiges Programm mit unterschiedlichen Therapiemodulen, basierend auf einer motivationsfördernden, kognitiven Verhaltenstherapie. Das Vorhaben, den Alkoholkonsum zu verändern oder sogar zu beenden, wird bestärkt. Drei Monate später folgt eine Abschlussbefragung. Begleitend gibt es ärztliche Untersuchungen.

Interessenten können unter 0231 / 4503-2777 oder per Mail unter frinta@lwl.org Kontakt aufnehmen.