Bochum. „Die Brüder Karamasow“ reißt das Publikum im Schauspielhaus Bochum von den Sitzen. Sieben Stunden dauert die Aufführung. Doch lohnt sich das?

Kurz vor Beginn um 15 Uhr ist die Laune unter den Theatergängern noch bestens: „Das sitzen wir auf einer Arschbacke ab“, scherzt ein Pärchen beim Einlass. Ob die beiden sieben Stunden später immer noch so vergnügt waren, ist nicht überliefert. Fest aber steht: Ein Großteil des Publikums hat die Mammut-Premiere von „Die Brüder Karamasow“ am späten Samstagabend im Schauspielhaus gefeiert.

Der stürmische Beifall ging über mehrere Minuten. Wer zweifelt, ob sich ein solch ellenlanger Theaterabend wirklich lohnt, dem seien hier fünf Gründe für den Besuch genannt.

Der Roman

Das Buch von Fjodor Dostojweski, erschienen 1880, misst locker 1200 Seiten und ist allein schon wegen seines Umfangs eine Herausforderung. Zahlreiche Theateradaptionen hat es in den letzten Jahren gegeben, in vielen Fällen wurde das Werk radikal auf etwa zweieinhalb Stunden Spiellänge gekürzt. Intendant Johan Simons und Dramaturgin Angela Obst wählen jetzt den opulenteren, aber auch unbequemeren Weg und zeigen den Roman in seiner ganzen Maßlosigkeit, in seiner Geschwätzigkeit und schrecken auch nicht vor den vielen Exkursen und Fabeln, die zwischendrin erzählt werden, zurück. Das fordert ebenso viel Durchhaltewillen wie die Lektüre, wird aber von einem fantastischen Ensemble getragen.

Die Schauplätze

Die Idee ist famos: Nach den ersten rund zwei Stunden im großen Haus werden die Zuschauer aufgefordert, die Plätze zu verlassen und mitten über die Bühne durch die Katakomben des Theaters hinüber zu den Kammerspielen zu gehen. Langsam bahnen sich die Besucher ihren Weg auf die Bühne. Wer dort noch nie stand und in den leeren Zuschauerraum blickte: Das ist ein erhabenes Gefühl. Zahlreiche Selfies und Handyfotos werden gemacht. Der zweite Teil spielt dann in den Kammerspielen, der dritte wieder zurück im großen Saal, gegessen wird zwischendurch im Foyer. So wirkt die ganze Aufführung wie eine riesige Reise durchs Schauspielhaus.

Szene aus „Die Brüder Karamasow“ im Schauspielhaus Bochum mit (von links) Danai Chatzipetrou und Dominik Dos-Reis.
Szene aus „Die Brüder Karamasow“ im Schauspielhaus Bochum mit (von links) Danai Chatzipetrou und Dominik Dos-Reis. © Armin Smailovic

Die Verpflegung

Es gibt zwei Pausen, beide sind großzügig bemessen. Zur zweiten Pause (etwa eine Stunde lang) wird das dreigängige Dinner serviert, auf das sich mancher während des ausufernden zweiten Teils in den Kammerspielen merklich gefreut hat. „Es duftet gut“, verrät der Schauspieler Steven Scharf kurz vor der Pause. „Kommt mit!“ Das vegetarische Menü ist lecker: Es gibt Borschtsch mit Brot, Gemüsequiche und Panna Cotta, dazu Mineralwasser (im Preis enthalten). Serviert wird die Mahlzeit vom Cateringservice Drees nicht auf Papp-, sondern stilvoll auf Keramiktellern mit Stoffservietten.

Die kleineren Pannen

Eine solch riesige Premiere geht nicht ohne Pannen ab, aber sie sind allesamt zum Schmunzeln. So setzt sich die Schauspielerin Anne Rietmeijer während einer Szene auf einen Servierwagen, der daraufhin unter ihr zusammensackt – ein Rad ist gebrochen. „Sorry“, sagt sie lächelnd. Zu Beginn des dritten Teils streiken die englischen Übertitel und zeigen nur seltsame Hieroglyphen. Immerhin: Trotz der immensen Textmassen, die die Schauspieler sprechen müssen, hat die Souffleuse in der ersten Reihe nicht viel zu tun.

Digitales Programmheft lohnt den Klick

Das Schauspielhaus hat mit Beginn dieser Spielzeit die gedruckten Programmhefte abgeschafft. Statt sie für ein paar Euro im Foyer kaufen zu können, bekommt jetzt jeder umsonst einen Zettel ausgehändigt mit einem QR-Code für das „digitale Programmheft“, das man auch auf der Webseite des Theaters findet.

Ein Klick darauf lohnt sich: Neben einer genauen Inhaltsangabe und diversen Essays und Zusatztexten finden sich hier auch die Links zu einigen Songs, die während der Aufführung erklingen – von Benny Goodman bis Nancy Sinatra. Alle Infos: schauspielhausbochum.de

Der Jubel

Am Ende der siebten Stunde um kurz nach 22 Uhr bricht sich ein riesiger Jubel Bahn. Etwas erleichtert sind die Besucher, den Marathon tatsächlich „geschafft“ zu haben, es gibt stehende Ovationen. Ein schönes Bild: Sämtliche Mitarbeiter, die an der Produktion beteiligt sind, kommen auf die Bühne, darunter die Techniker, die Kellner und der Einlassdienst. „Die Brüder Karamasow“, so scheint es, hat das ganze Haus ein Stück zusammengeschweißt.