Bochum. Am Ende springen sie von den Stühlen auf. Manche aus Begeisterung, andere weil sie nicht mehr sitzen können: „Die Brüder Karamasow“ in Bochum.

In der wechselvollen Geschichte des Bochumer Schauspielhauses begab es sich nicht oft, dass die Herren Intendanten bereits am frühen Nachmittag zur Premiere baten. Mit einem siebenstündigen „Hamlet“ verabschiedete sich Frank-Patrick Steckel 1995 aus der Stadt, die Inszenierung genießt bis heute einen Ruf wie Donnerhall. Ob sich die Theaterfans auch in 20 Jahren noch mit leuchtenden Augen an „Die Brüder Karamasow“ erinnern werden, die Johan Simons jetzt in ähnlich opulenter Spiellänge auf gleich beide Bühnen des Hauses wuchtet, ist natürlich nicht bekannt. Zu wünschen wäre es dem ehrgeizigen Vorhaben.

Die Karamasows sind schon im letzten Roman von Fjodor Dostojewski, der 1880 erschien, eine schwer zu greifende Sippe. 1200 Seiten, erbitterte philosophische Debatten über Gott und die Welt, Liebe, Hass und Neid: Es steckt eine Menge Maßlosigkeit in dem monströsen Wälzer. Wer ihn unbedingt ins Theater bringen will, muss entweder radikal streichen oder sich den Tiefen des Mammutwerks mit breiter Brust stellen. Johan Simons, der noch nie zu denen gehörte, die Buchinhalte auf der Bühne brav nacherzählen, entschied sich für den zweiten Weg – und mutet seinem hochklassigen Ensemble dabei ebenso viel zu wie dem Publikum.

Sieben Stunden: Johan Simons inszeniert in Bochum „Die Brüder Karamasow“

Dabei unternimmt Simons eine Menge, um ihnen die Marathonsitzung so angenehm wie möglich zu machen. Clever sind vor allem die Schauplatzwechsel: Nach dem ersten Teil im großen Saal, der eine riesige weiße Kathedrale (von Wolfgang Menardi) zeigt, gehen die Zuschauer mitten über die Bühne, vorbei an den Garderoben und durchs Treppenhaus hinüber in die Kammerspiele, wo der zweite Teil in einer perfekt eingerichteten Küche beginnt. Zwei Stunden später erwartet die inzwischen leidlich hungrigen Gäste im oberen Foyer ein vegetarisches Abendessen. Als Event, das man gemeinsam erlebt und bis zur vorgerückten Stunde hinein auch eisern durchsteht, funktioniert der Abend also bestens – und er tut nebenbei einiges für die recht mauen Auslastungszahlen: Weil logischerweise nicht mehr Zuschauer kommen dürfen als Plätze in den Kammerspielen vorhanden sind (etwa 400), ist auch das große Haus mit doppelt so vielen Sitzen flugs „ausverkauft“.

Es braucht beim Zuschauen einen langen Atem, um die Geschichte der drei (oder vier?) Brüder und ihres verhassten Vaters bis zum bitteren Ende zu verfolgen. Erleichtert mag man feststellen, dass Johan Simons diesmal kein hartes Theaterbrot in abstrakter Form serviert: Seine Inszenierung wirkt ungemein zugänglich, fast schon altmodisch und nimmt sich eine Menge Zeit für jede einzelne der elf Figuren. Bisweilen verharrt die Szenerie minutenlang in einem zauberhaften Dämmerschlaf, von irgendwoher weht ein Country-Song um die Ecke.

Brüder Karamasow in Bochum: Die nächsten Termine: 4. und 5. November, 9. und 10. Dezember.

Vor allem der zweite Teil in der Küche ist ein präzise gespieltes und bestens gebautes Kammerspiel. Nur der Schluss („In der Hölle“) besitzt einige Längen, was freilich auch daran liegen könnte, dass in der siebten Stunde die Konzentration langsam flöten geht.

Das Schwerblütige rauscht oft leichtfüßig vorbei: vor allem in Gestalt von Dominik Dos-Reis, der den jüngsten Karamasow-Spross Aljoscha hinreißend zart formt. Victor IJdens als Ältester Dimitrij vergeht in unerfüllter Liebe zu seiner Gruschenka (Anne Rietmeijer), die auch sein Vater umwirbt. Da fliegt aus Zorn so mancher Kohlkopf über die Bühne, während der eigentlich wesentlich ältere Steven Scharf als mittlerer Sohn Iwan mit angezogener Handbremse den zögerlichen Zauderer gibt. Seine Verbindung zu Katerina (Jele Brückner) bleibt ebenso angedeutet wie die Kriminalgeschichte, die im Buch viel Raum einnimmt. Der ellenlange Gerichtsprozess fehlt komplett. Als weinerlicher Unsympath Fjodor Karamasow überstrahlt Pierre Bokma mit raffiniert lässigem Spiel so manche Szene.

Karten kosten von 38 bis 57€: Tel. 0234-33 33 55 55

Nach überstandener Dostojewski-Dröhnung spendet das Publikum stehende Ovationen. Die einen springen aus Begeisterung von ihren Sesseln, die anderen, weil sie dort keine Minute länger mehr sitzen können.

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Info zum Stück und dem Imbiss zwischendurch

„Die Brüder Karamasow“ wird unterbrochen von zwei längeren Pausen. Zum Abendessen wird ein vegetarisches Drei-Gänge-Menü serviert, das im Eintrittspreis enthalten ist. Zur Vorspeise gibt es Borschtsch mit Brot, zum Hauptgang Gemüsequiche, als Nachtisch Panna Cotta. Die nächsten Termine: 4. und 5. November, 9. und 10. Dezember. Karten: 0234 33 33 55 55