Bochum/Hattingen. Seit 75 Jahren vertreten die Arbeitgeberverbände im mitteleren Ruhrgebiet die Interessen von Firmen. Was sind die aktuellen Herausforderungen?
Inflation, Ukraine-Krieg, Digitalisierung, Fachkräftemangel. Die Wirtschaft steht vor großen Herausforderungen. Es sind die vielleicht größten, mit denen es die Arbeitgeberverbände (AGV) Ruhr/Westfalen in ihrer 75-jährigen Geschichte zu tun haben.
Fiege-Chef war der erste Vorsitzende des Arbeitgerverbandes
Am 10. Februar 1948 wurde einer der AGV-Mitgliedsverbände, der Arbeitgeberverband Ruhr-Lippe, im Parkhaus Bochum von 30 Unternehmern gegründet – damals noch als Allgemeiner Arbeitgeberverband Bochum. Moritz Knühl-Fiege, Chef der Fiege-Brauerei, wurde zum Vorsitzenden gewählt.
Drei weitere Verbände gehören heute der AGV an („Chemie stellt die meisten Mitglieder“). Von ihrem Sitz an der Königsallee 67 in Bochum aus vertreten die Arbeitgeberverbände mehr als 420 Mitgliedsunternehmen mit etwa 96.000 Beschäftigten. Verbandsgebiet ist das „Mittlere Ruhrgebiet“ – von Bottrop bis Waltrop und von Hattingen bis Haltern.
Das Tagesgeschäft der Verbände erledigt ein 20-köpfiges Team um Dirk W. Erlhöfer. Der Jurist ist seit 2006 AGV-Hauptgeschäftsführer und stellt sich den Fragen dieser Redaktion zum Jubiläum.
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Jedes fünfte Unternehmen in der Region schreibt Verluste
Herr Erlhöfer wie ist die Lage der Unternehmen im Mittleren Ruhrgebiet?
Dirk W. Erlhöfer: In unserer letzten Konjunkturumfrage im Juni wurde deutlich: Sie leiden unter der derzeitigen Kostensituation: Jedes fünf Unternehmen schreibt aktuell Verluste. Die Gründe sind vielfältig: der Ukraine-Krieg mit allen damit einhergehenden Folgen, Energiekosten, Rohstoffkosten, anhaltende Lieferkettenprobleme, steigende Lohnkosten und Sozialversicherungsbeiträge etc. Der Standort Deutschland wird für Industrie-Unternehmen zunehmend unattraktiv. Die Gefahr der Deindustrialisierung steigt unaufhörlich. Immerhin: Trotz einbrechender Auftragszahlen melden die Unternehmen stabile Investitionszahlen. Die Frage ist „wie lange noch?“
Was ist aktuell ihre größte Herausforderung: Inflation, Ukraine-Krieg, Rohstoffpreise, Fachkräftemangel, Digitalisierung, der gesellschaftliche Wandel mit der wachsenden Bedeutung der Work-Life-Balance?
Im Grunde ist es die Gleichzeitigkeit aller aufgeführten Herausforderungen. Die Unternehmen haben nach Corona keine Zeit zum Durchschnaufen gehabt. Der Ukraine-Krieg und die explodierenden Kosten haben sich nahtlos an das Auslaufen aller Corona-Einschränkungen angeschlossen. Auch ohne diesen geopolitischen Sondereffekt sind die gesellschaftspolitischen Megathemen Transformation und Fachkräftemangel nicht etwa nur Randthemen geworden.
Ruhr-Staatssekretär prangert Deindustrialisierung an
Hat es in den vergangenen 75 Jahren eine ähnlich komplexe Situation für Firmen gegeben?
Die letzten großen Wirtschaftskrisen 2008/2009 und 2020 waren vergleichsweise monokausal. Weltweit verunsicherte Märkte und einbrechende Aufträge aufgrund der Turbulenzen am Finanzmarkt und Corona. Aktuell haben wir es mit strukturellen Problemen zu tun. Der Standort Deutschland ist auf dem besten Wege, im weltweiten Wettbewerb nicht mehr konkurrenzfähig zu sein. Übrigens auch dank überbordender Bürokratie und gleichzeitig schleppender Digitalisierung und fehlender Beschleunigung von öffentlicher Verwaltung.
Chemie stellt die meisten Mitglieder
Der größte Verband im AGV – gemessen an der Mitgliederzahl – ist der Arbeitgeberverband der chemischen Industrie Westfalens mit 182 Mitgliedsunternehmen.
Der Arbeitgeberverband der Metall- und Elektroindustrie Ruhr/Vest e.V. zählt 105 Unternehmen, der Arbeitgeberverband Ruhr-Lippe e.V. 93 und der Arbeitgeberverband Papier, Pappe, Kunststoff Westfalen e.V. als „kleinster“ Verband 40 Unternehmen.
Gegenüber der WAZ hat Ruhr-Staatssekretär Josef Hovenjürgen vor einigen Tagen sinngemäß geäußert, Flächenmangel und Deindustrialisierung würden der Region schaden. Teilen der AGV und seine Mitgliedsunternehmen diese Einschätzung?
Neben den bereits angesprochenen Punkten, die eigentlich gegen den Standort Deutschland sprechen, kommt das noch dazu. Unternehmen, die gerne in der Region bleiben möchten, finden keine Flächen und werden eher im Süden oder Osten der Republik fündig. Auch die unterschiedlichen Förderkulissen, die hohen Steuern und Abgaben machen Ansiedlungen in der Region nicht einfacher. Dabei gibt es noch einige Standortvorteile: das Arbeitskräftepotenzial, die guten aber leider zunehmend marode Verkehrsinfrastruktur mit einer zentralen Lage in Europa und die einzigartige Hochschuldichte. Und was die Industrie betrifft: Sie ist seit über 100 Jahren das Rückgrat unserer Wirtschaft. Auch wenn sie in vielen Städten des Ruhrgebiets nur noch 20 bis 25 Prozent der Wirtschaftsleistung ausmacht, hier findet die Wertschöpfung, hier finden die Innovationen statt, hier wird gut verdient.
Hochschulen und schlaue Köpfe haben wir genügend
Wo liegt die Zukunft der Region: im Stahl oder in der IT?
In einer gesunden Mischung aus Industrie, Hochtechnologie, Wissenschaft, Dienstleistungen aller Art und Lebensqualität liegt die Zukunft. Auch die Köpfe der jungen Menschen sind unsere Zukunft. Innovationen, gute Ideen und deren Anwendung in der Praxis. Wir können Vorreiter beim „grünen Stahl“ werden und wir können Vorreiter bei der Entwicklung neuer IT-Anwendungen werden. Hochschulen und schlaue Köpfe haben wir genügend. Wir müssen nur ermöglichen, dass Idee und Praxis zueinanderfinden und dass die hier ausgebildeten klugen Köpfe auch in der Region bleiben. Auf diesem Gebiet passiert bereits sehr viel, Unternehmen und Hochschulen könnten aber noch viel enger kooperieren. Wie ausgeprägt die Experimentierfreude und Innovationsfähigkeit auf Unternehmensseite ist, hängt aber immer von den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ab. Und die sind aktuell nicht gut.
Welche Defizite und welche Chancen hat die Region?
Die Defizite sind das immer noch zu ausgeprägte „Kirchturm-Denken“ und das nicht ausreichende Marketing über die Potenziale. Chancen ergeben sich durch eine kluge Ansiedlungspolitik mit einem Branchen-Mix, durch eine schnellere Ertüchtigung der Infrastruktur und durch ein verbessertes Gründungsklima.
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Welche Aufgaben haben die Arbeitgeberverbände Ruhr-Lippe?
Wir sprechen die Probleme öffentlich und über unsere Dachverbände auch in vielen Gesprächen mit der Politik offen an. Erst in der vergangenen Woche haben wir uns mit Bochumer SPD-Landtagsabgeordneten ausgetauscht und die Probleme aus Sicht der Unternehmen artikuliert. Darüber hinaus unterstützen wir Unternehmen, die in Schieflage geraten sind, vor allem arbeitsrechtlich, vereinbaren wenn nötig im Zusammenspiel mit Gewerkschaften Krisenregelungen und helfen bei der rechtssicheren Anwendung z.B. der Kurzarbeitsregelungen und anderer Gesetze und Verordnungen. Kurz gesagt fungieren wir als Informationsbringer, Beratungsexperte, Bindeglied und Sprachrohr.
Haben sich die Aufgaben im Laufe der Jahre verändert?
Wir verstehen unsere Arbeit heute anders als früher vielleicht eher als umfassender Dienstleister. Wir beraten, wir informieren, wir vernetzen und wir unterstützen bei fast allen Arbeitgeber-Themen. Und wenn wir selbst nicht helfen können, wissen wir, wer es kann. In der Aufgabenstruktur, der Interessenvertretung, hat sich wenig verändert; in der Fokussierung, Komplexität, Vielfalt und Intensität dagegen sehr viel.
Verband fordert bessere Zusammenarbeit der Städte
Welche Forderungen haben Verbände und Mitgliedsunternehmen an die Politik in Bochum und im Mittleren Ruhrgebiet?
Verwaltungsprozesse wie zum Beispiel Baugenehmigungen müssen digitalisiert, beschleunigt und vereinfacht werden. Industrie- und Bahn-Brachen müssen reaktiviert werden, um Flächen für Industrie und Gewerbe zu gewinnen. Das Baustellenmanagement muss optimiert werden. Und es muss mehr interkommunale Zusammenarbeit geben – zum Beispiel bei der Müllabfuhr und bei Backoffice-Funktionen.
Vervollständigen Sie bitte den Satz: Bochum ist ...
… zwar keine Schönheit, aber auf einem guten Pfad in die Zukunft.
Das Mittlere Ruhrgebiet ist ...
… eine einzigartige Region in Deutschland. Wir müssten uns nicht verstecken vor großen Städten wie Berlin, München, Hamburg oder Paris und London. Wenn wir ein gemeinsames Ziel, eine gemeinsame Vision für das Ruhrgebiet mit über fünf Millionen Einwohnern entwickeln (und danach handeln), können wir eine ungeheure Kraft entwickeln. Leider schaffen wir es noch immer nicht, die vielen Einzelinteressen unter einen Hut zu bekommen.