Bochum. „Bruttosozialprodukt“ war 1983 das Lieblingslied der Deutschen, die Melodie kennt jeder. Nur Dieter Thomas Heck mochte die Bochumer gar nicht.

Diese Zeilen kennt jedes Kind: „Ja-ja-ja, jetzt wird wieder in die Hände gespuckt, wir steigern des Bruttosozialprodukt“, schallte es ab 1983 aus Kassettenrekordern, Diskotheken und Partyzelten. Mit dem frech-ironischen Song vom „Bruttosozialprodukt“ landete die Band Geier Sturzflug aus Bochum ihren ersten und einzigen Nummer-Eins-Hit in den deutschen Charts.

Genau 40 Jahre ist es her, seit sieben Bochumer Jungs über Nacht zu Popstars und Ikonen der Neuen Deutschen Welle wurden. An die wilden Zeiten erinnert sich der Schlagzeuger Uwe Kellerhoff heute mit einem Lächeln, aber auch mit einem Schaudern.

Sieben Jungs aus Bochum wurden über Nacht zu Popstars

Kellerhoff war zarte 17 Jahre jung, als er beschloss, sein Leben einmal komplett auf den Kopf zu stellen. „Die Schule stand mir bis zum Hals, einen normalen Beruf wollte ich nicht ergreifen und bloß nicht so werden wie die anderen Spießer“, erzählt er. Mit langen Haaren und mittlerer Reife an der ehemaligen Carl-Lührig-Schule in Hamme jobbte er fortan als Tellerwäscher auf Juist, mit dem Geld trampte er nach Indien. „Meinen 18. Geburtstag feierte ich an der afghanischen Grenze, schwer beeindruckt von Schriftstellern wie Jack Kerouac und William S. Burroughs.“

„Tatort Jazz“ im Bahnhof Langendreer

Schlagzeuger Uwe Kellerhoff ist beim nächsten Tatort-Jazz-Konzert zu erleben, das am Mittwoch, 24. Mai, um 20 Uhr im Bahnhof Langendreer (Wallbaumweg 108) stattfindet. Unter dem Motto „Ab in den Sommer!“ spielt ein achtköpfiges Ensemble mit Künstlern aus Deutschland, Brasilien und Syrien.

Die Solisten Martin Buschmann (Steeldrum, Saxophon), Milli Häuser und Nisreen Sukkar (Gesang) treffen auf die Hausmusiker Matthias Dymke (Piano) und Alex Morsey (Bass). Kellerhoff spielt mit dem „New PADI Percussion Orchestra“. Eintritt frei. Reservierung: milli-haeuser@gmx.de

Zurück in Deutschland beschloss er, seine Liebe für die Musik weiter zu verfolgen. Als völliger Autodidakt spielte er Gitarre, später Bass und Schlagzeug in diversen Garagenbands aus der linksalternativen Szene, zu denen auch sein Jugendfreund Detlef Ballin gehörte. „Unsere Welt waren die Doors, Hendrix und die Anti-AKW-Bewegung“, sagte er. Unter dem Bandnamen „Schotter blau gebündelt“ stieß der spätere Geier-Sturzflug-Sänger Friedel Geratsch dazu: „Er war ein super Songschreiber, mit ihm wurden wir eine ganze Ecke besser“, so Kellerhoff. „Wir haben geübt ohne Ende, wir waren echt fleißig. Und von den vielen Konzerten in Kneipen und Jugendzentren konnten wir sogar leben.“

„Bruttosozialprodukt“ ging über Nacht durch die Decke

Als Kollektiv gründeten sie kurz darauf die Band Geier Sturzflug. Der steile Aufstieg ließ plötzlich nicht mehr lang auf sich warten: „Der Erfolg kam aus dem Nichts“, sagt Kellerhoff. „Unsere Plattenfirma hat uns noch gefragt, ob wir damit wirklich in die Hitparade wollen. Wir wollten unbedingt!“ Obwohl der Song „Bruttosozialprodukt“ schon etwas älter war, ging er über Nacht durch die Decke: Platz eins in Deutschland, Österreich und der Schweiz! Auch das Album „Heiße Zeiten“ mitsamt der zweiten Single „Besuchen Sie Europa (solange es noch steht)“ verkaufte sich bestens.

Die „Geier“ waren plötzlich in aller Munde, sie wurden von einer TV-Show zur nächsten gereicht, verfolgt von Groupies und Autogrammjägern. „Es gab einen Fanclub aus Herne, die Mädchen sind uns dauernd nachgereist“, erinnert sich Kellerhoff schmunzelnd. Derweil lernten die Jungs das Jet-Set-Leben kennen, flogen in der Privatmaschine, mit der Helmut Kohl zuvor Wahlkampf gemacht hatte. „Eigentlich fanden wir das alles eher lustig. Wir waren ja auch keine ehrgeizigen Typen.“ Bis heute werden die Tantiemen gerecht unter allen Mitgliedern aufgeteilt: „Aber viel ist das nicht.“

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Skandal und Ärger in der ZDF-Hitparade

Unvergessen bleibt ein kleiner Skandal 1983 in der ZDF-Hitparade: Vor laufender Kamera dichtete Friedel Geratsch eine Textzeile um. Statt „Und am Mittwoch kommt die Müllabfuhr und holt den ganzen Plunder“ sang er zur besten Sendezeit: „Und am Mittwoch kommt die Müllabfuhr und holt sich einen runter.“ Danach soll Moderator Dieter Thomas Heck nicht mehr gut auf die Bochumer zu sprechen gewesen sein.

Der Sturzflug folgte recht schnell, schon die nächste EP konnte die Erwartungen der Plattenfirma nicht mehr erfüllen. Dazu kam ein enormes Pensum an Live-Auftritten: „Wir haben 250 Konzerte im Jahr gespielt, jede Nacht war Party. Am Ende waren wir alle fix und fertig, und der Druck, den ersten Hit noch toppen zu müssen, war enorm.“

Wilde Zeiten erlebte der Musiker Uwe Kellerhoff in den frühen 1980er Jahren als Schlagzeuger der NDW-Band Geier Sturzflug.
Wilde Zeiten erlebte der Musiker Uwe Kellerhoff in den frühen 1980er Jahren als Schlagzeuger der NDW-Band Geier Sturzflug. © FUNKE Foto Services | Uwe Möller

In ihrer Urbesetzung brach die Band 1986 auseinander, das Ende von Geier Sturzflug bedeutete dies aber nicht. Friedel Geratsch veröffentlicht weiterhin neue Alben: „In der großen Tradition der kleinen Haushaltswaren“ entstand etwa 2022 mit dem Bochumer Musiker Karsten Riedel.

Bandmitglieder gingen getrennte Wege

Die übrigen Bandmitglieder gingen fortan getrennte Wege. „Wir sehen uns nur selten, haben aber ein entspanntes Verhältnis“, sagt Kellerhoff. Bis heute gut bekannt ist der Saxophonist Klaus Fiehe, der als Radio-DJ und Moderator bei „Eins Live“ tätig ist.

Uwe Kellerhoff ist schon lange als Jazzmusiker und exzellenter Schlagzeuger aktiv. Er war Teil der Band von Stefan Stoppok, spielt in Formationen wie dem UK-Quartett und ist seit 17 Jahren Mitglied der Tatort-Jazz-Hausband, die im ganzen Ruhrgebiet auftritt. Als Musiklehrer unterrichtet er Schlagzeug im Kulturhaus Thealozzi. Und wenn er zufällig mal den Song vom „Bruttosozialprodukt“ im Radio hört? „Dann erinnere ich mich daran, wie knuffig und erfrischend wir damals klangen.“

Alle Infos: 40-jahre-geier-sturzflug.de