Bochum-Hamme. Zur Ruhe kommen - darum geht’s in der Autobahnkirche an der A40 in Bochum-Hamme. Pfarrer Michael Otto ist seit zehn Jahren hier, hat viel erlebt.

Auf dem rechteckigen Kirchturm aus dunklen Backsteinen steht auf einem großen Plakat weit lesbar: „Komm mal zur Ruhe – deine Autobahnkirche.“ Genau das ist die Botschaft, mit der Pfarrer Michael Otto seit zehn Jahren die Menschen, die an der A40-Ausfahrt Bochum-Hamme an seiner Kirche vorbeikommen, zu einem Moment des Innehaltens einlädt.

Innehalten an der A40 in Bochum-Hamme

„Zu uns kann jeder kommen, völlig egal, woher er kommt oder was er glaubt“, sagt der 54-Jährige. Täglich zehn Stunden sind die Türen der Kirche offen für alle, solche langen Öffnungszeiten gehören zu den Auflagen, die jede Autobahnkirche in Deutschland erfüllen muss. Die meisten Menschen, die sich in den Kirchenbänken ausruhen, einen Ort zum Nachdenken finden oder beten, sieht Pfarrer Otto nicht persönlich.

500 Seiten voller Gedanken und Gebete

Sie kommen aus dem Trubel des Alltags für einige Zeit in den ruhigen, hellen Kirchraum und verschwinden dann wieder in der Anonymität. Trotzdem weiß Otto, was die Menschen ausmacht, die hierherkommen. Auf einem Podest aus hellem, glatten Holz am Eingang der Kirche liegt ein Buch mit rund 500 Seiten. Hier sind Gedanken aufgeschrieben, Sorgen und Ängste oder Freuden und Fragen. „Danke, dass du unsere Oma bei dir hast“ steht auf einer Seite, auf einer anderen: „Ich frage dich warum? Warum hast du ihn einfach gehen lassen und ich bleibe alleine zurück?“

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Suche nach einem ruhigen Platz in Bochum

„Die meisten Menschen schreiben etwas, wenn sie aus dem Krankenhaus oder von einer Beerdigung kommen“, sagt Otto. „Sie suchen in ihrer Trauer nach einem ruhigen Platz und einer Möglichkeit, ihre Gedanken in Worte zu fassen. Sie kommen vor allem hier in der Nähe aus dem Ruhrgebiet. Aber es gibt auch die, die dankbar sind für diesen Ort, das sind eher die Weitreisenden, von denen viele immer mal wieder kommen.“

Der Künstler Uwe Siemens, links, seine Helferin Hella Kirchberg und Pastor Michael Otto stehen auf der Empore der Autobahnkirche im Februar 2022 in Bochum zur großen Kunstinstallation „Das leuchtende Band“.
Der Künstler Uwe Siemens, links, seine Helferin Hella Kirchberg und Pastor Michael Otto stehen auf der Empore der Autobahnkirche im Februar 2022 in Bochum zur großen Kunstinstallation „Das leuchtende Band“. © FUNKE Foto Services | Dietmar Wäsche

Vielfalt der Sprachen

Ein weiteres großes Thema, das die Menschen in dem sogenannten Anliegenbuch verarbeiten, sei die Sehnsucht nach Liebe oder der Schmerz nach verlorenen Beziehungen. Die meisten seien Pendelnde, immer mal wieder Menschen am Steuer eines Lkw, seltener Reisende auf der Durchfahrt. Auffällig sei auch die Vielfalt der Sprachen, osteuropäische Einträge sind immer wieder dabei, während der Flüchtlingskrise 2015 entdeckte Pfarrer Otto viele arabisch geschriebene Worte.

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Tägliche Gespräche und spontane Momente

So vielfältig wie die Sprachen und Schriften sei auch der Glauben der Menschen, die zur Autobahnkirche Ruhr der Selbstständig Evangelisch Lutherischen Kirche kommen, weiß er. Wenn Michael Otto gleichzeitig mit Jemandem in der Kirche ist, spricht er die Personen nicht offen an, nur wenn sie es wünschen. Aber einen Lieblings-Stammgast hat er doch. „Ein Mann, der bei der Bochumer Müllabfuhr arbeitet, kommt fast jeden Tag, macht eine kurze Pause auf einer Bank und betet, bevor er in den Tag startet. Mit ihm unterhalte ich mich oft, für ihn ist das wie ein tägliches Ritual.“

Manchmal sind es die unvorhergesehenen Momente, die den Pfarrer besonders berühren. Vor einigen Jahren habe es auf der A2 einen schweren Unfall mit Todesopfern gegeben, die schockierten und trauernden Angehörigen suchten online nach einem Zufluchtsort und fanden die Bochumer Autobahnkirche. „Ich wollte eigentlich grade die Tür abschließen, als sie kamen“, erinnert sich Otto. „Wir haben dann spontan eine kleine Andacht in der Kirche gehalten, das war wirklich sehr bewegend.“

Begegnungen mit Menschen, die trauern

Aber auch die Begegnungen mit den Menschen, die zur Epiphanias-Gemeinde in Bochum gehören, sind für ihn immer wieder etwas Besonderes: Sehr intensiv hat er die Treffen mit Eltern in Erinnerung, deren Sohn auf dem Schulweg bei einem Straßenbahnunfall ums Leben kam. Genau für solche Angehörigen bietet die Autobahnkirche jedes Jahr am ersten Novemberwochenende einen Gedenkgottesdienst für Opfer im Straßenverkehr.

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Schlimme Erlebnisse verarbeiten

Polizei und Seelsorgende laden dazu ein, vor Ort bleiben die Angehörigen immer anonym. Auch Feuerwehr- und Notfallkräfte sind dabei, erzählen behutsam aber eindrücklich von ihren Erlebnissen bei tödlichen Unfällen auf den Autobahnen und Straßen des Ruhrgebiets. „Das ist vor allem wichtig, um auch ihnen Anerkennung für ihren Einsatz zu geben“, sagt Otto. „Es ist jedes Mal eine sehr intensive gemeinsame Stunde.“ Seit Beginn der Corona-Pandemie sei die Anzahl der tödlichen Unfälle deutlich gesunken, nach über zwei Jahren und vor allem zur dunklen Jahreszeit merke er, dass der Stress im Straßenverkehr rund um die Kirche wieder ansteige. „Es wird öfter gehupt, die Blaulichter werden wieder mehr, die Menschen sind angespannter“, sagt er.

Umzug nach Bochum

Bis 2012 arbeitete er für die Selbstständig Evangelisch Lutherische Kirche in Guben in der Niederlausitz, eine 16.000-Einwohnerstadt nahe der polnischen Grenze. Der Umzug nach Bochum war für ihn und seine Familie eine große Umstellung, von der sehr ruhigen Gegend ging es in eine Wohnung direkt hinter die Schallschutzwand der A40. „Mittlerweile ist das aber nur noch ein Grundrauschen, das ich wahrnehme“, sagt er und lacht. Als die Anfrage für die Pfarrerstelle in der Bochumer Gemeinde kam, zögerte er nicht lange. „Die Arbeit in einer Großstadt hat mich gereizt, vor allem das Projekt Autobahnkirche. Es hat meinen Blick über das Traditionelle sehr geweitet, zeigt mir jeden Tag die Breite unserer Gesellschaft, was die Menschen bewegt, vor allem die Fremden, die nicht aus einer in sich geschlossenen Gemeinde hierhin kommen.“