Bochum/Herne. Autist Christian aus Bochum wurde von seinem Reiseanbieter in Polen stehengelassen. Allein, ohne Bleibe. Der Grund: ein positiver Corona-Test.
Die vergangenen Tage sind für Christian* (35) aus Bochum der blanke Horror gewesen. Mit seiner Mutter macht der Mann, der ein starkes Asperger-Syndrom, eine autistische Entwicklungsstörung, hat, eine Busreise mit dem Unternehmen „Graf’s“ aus Herne. Wenige Tage vor Ende der Reise ins polnische Swinemünde erleidet die Mutter einen Schlaganfall, kommt ins Krankenhaus. Sie wird positiv auf Corona getestet, wie am Tag der Abreise auch Christian. Mitsamt des Gepäcks lässt der Busfahrer den 35-Jährigen vor dem Hotel stehen – ohne eine greifbare Möglichkeit, zurückzukommen. Ohne ein Zimmer, in dem er verbleiben kann.
Busfahrer von großem Reiseanbieter aus Herne lässt Bochumer in Polen stehen
Das war am letzten Montag (1. August). „Mir geht es schlecht, das war furchtbar“, sagt Christian nun. So schildert es uns die Bochumerin Anja V. Sie macht selbst gerade Urlaub in Italien, als sie der Hilferuf ereilt. „Ich war vollkommen perplex“, so Anja V. im Telefongespräch mit unserer Redaktion. „Christian ist überhaupt nicht in der Lage, sich alleine zurechtzufinden“, erklärt sie. Sie kennt den 35-Jährigen seit seiner Geburt, ist seit Schulzeiten mit der Mutter (61) befreundet.
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Ende der vergangenen Woche kommt diese nach dem Schlaganfall in ein deutsches Krankenhaus nahe der polnischen Grenze. Ihr Sohn bleibt bei der Reisegruppe. Weil die Mutter positiv auf Corona getestet wird, macht auch Christian einen Corona-Schnelltest. Ob freiwillig oder auf Drängen des Busfahrers – das lässt sich nicht zweifelsfrei sagen. Allerdings: Der Test fällt positiv aus. „Der Busfahrer ist einfach ohne ihn gefahren. Nicht einmal das Gepäck hat er mitgenommen“, berichtet Anja V.
Christian wendet sich an die Bochumerin, die versucht, ihm aus der Ferne zu helfen. Sie ruft das Unternehmen „Graf’s Reisen“ in Herne an, zuerst habe man gar nicht mit ihr sprechen wollen. „Bis auf die schlichte Mitteilung eines Mitarbeiters der Rechtsabteilung, man habe eine Zugverbindung für den Sohn herausgesucht, sind weitergehende Hilfestellungen nicht erfolgt“, so Anja V.
Unternehmen sei für Schutz der übrigen Gäste und der Mitarbeiter verantwortlich
Anja Graf aus der Geschäftsleitung des Unternehmens in Herne erklärt: „Der Busfahrer konnte den Sohn aufgrund des positiven Tests nicht mitnehmen, da für einen Erkrankten die Pflicht zur Absonderung besteht. Daher war der Sohn zum Zeitpunkt der Abreise nicht beförderungsfähig. Eine Erkrankung während des Urlaubs ist leider allgemeines Lebensrisiko und somit das Risiko des Reisenden.“ Der Reisebus sei mit etwa 40 Reisegästen besetzt gewesen. „Insoweit sind wir für den Schutz unserer übrigen Gäste als auch unserer Arbeitnehmer verantwortlich“, so Anja Graf weiter.
Nach Kenntnis der Umstände am Montag habe der Reiseanbieter direkt Kontakt mit dem Sohn aufgenommen. Graf: „Wir haben ihm angeboten, dass er sich im Hotel isoliert oder anderweitig eine Rückreise antritt. Für beide Fälle muss der Reisende kostenmäßig selbst aufkommen.“
Auch die Organisation des Aufenthaltes oder der Rückreise obliege dem Reisenden. „Wir als Veranstalter bieten dem Reisenden eine Unterstützung an, indem wir Kontakt mit dem Hotel aufnehmen, um eine Verlängerung des Aufenthaltes zu vermitteln oder Bahnverbindungen raussuchen oder den Kontakt mit Verwandten/Freunden etc. herstellen, die eine Abholung organisieren“, so Anja Graf weiter.
Bochumer arbeitet in Behindertenwerkstatt, hat einen gesetzlichen Betreuer
Eine Unterkunft zu finden – das sei unmöglich gewesen und dabei habe der Reiseanbieter auch nicht unterstützt. „Im Hotel und in der Umgebung ist zu dieser Zeit alles ausgebucht“, sagt Anja V., die Freundin der Familie. Eine Mitarbeiterin des polnischen Hotels teilte ihr das mit, der Reiseanbieter „Graf’s“ habe das auch eingeräumt.
Dass das Unternehmen dem jungen Mann, der vollkommen überfordert vor dem Hotel stand, mündlich eine Bahnverbindung genannt hat, bestätigt Anja V. Sich diese zu merken, sei für Christian aber nicht ansatzweise möglich gewesen. „Christian ist so, dass er sagt, er kann das alles. Er möchte nachvollziehbarerweise nicht zugeben, dass er Dinge nicht kann“, sagt die Bochumerin. Der 35-Jährige arbeitet in einer Behindertenwerkstatt, hat außerdem einen gesetzlichen Betreuer, der für Anja V. aber nicht erreichbar war.
„Angekommen ist er. Aber nicht gut.“
Von „Graf’s Reisen“ heißt es dazu: „Der Sohn entschied sich für eine alternative Rückreise per Bahn. Dem Sohn wurde von uns eine Bahnverbindung herausgesucht. Auf eine schriftliche Information hat der Sohn verzichtet, da er sich alles merken könne.“ Welche Verbindung er letztendlich genommen hat, sei dem Anbieter nicht bekannt. Er habe am Dienstag aber versucht, den Bochumer zu erreichen. „Um uns zu vergewissern, dass er gut angekommen ist.“
Angekommen ist er. „Aber nicht gut“, sagt Anja V. Mit dem Taxi fährt Christian schließlich zu einem Bahnhof an der deutsch-polnischen Grenze, von dort aus mit der Bahn nach Berlin und über Hamm weiter nach Bochum. Ein Schaffner hilft ihm, ein Ticket zu ziehen. Mehrere Stunden verbringt er in der Nacht allein am Hauptbahnhof in der Hauptstadt – mit im Gepäck auch die Sorge um seine Mutter, zu der er im Krankenhaus keinen Kontakt aufnehmen kann.
*Name geändert, der Redaktion bekannt