Bochum. Im Bochumer Medican-Prozess um Betrug mit falsch abgerechneten Corona-Tests ist das Urteil gefallen. Gleichzeitig kam der Verurteilte frei.

Nach fast siebenmonatigem Prozess gegen die Verantwortlichen der Firma Medicanum Abrechnungsbetrug mit Corona-Tests ist am Freitagvormittag das Urteil ergangen: Der 49-jährige Angeklagte muss für sechs Jahre wegen gewerbsmäßigen schweren Betrugs ins Gefängnis.

Richter Michael Rehaag attestierte ihm eine „hohe kriminelle Energie“ und sagte: „Er handelte mit einer Selbstbedienungsmentalität, die ihresgleichen sucht.“ Den Betrugsschaden, den der Bund erlitten hatte, bezifferte der Richter auf mindestens 24,58 Millionen Euro

Außerdem setzte die 6. Wirtschaftsstrafkammer den Haftbefehl wegen Fluchtgefahr mit sofortiger Wirkung außer Vollzug. Der Betrüger ist jetzt ein freier Mann. Allerdings nur, bis er in einigen Wochen die Ladung zum Haftantritt bekommt. Bei der anwesenden Familie des Angeklagten löste die Freilassung Tränen der Freude und Erleichterung aus. Seit Anfang Juni 2021 hatte er in U-Haft gesessen.

Medican-Prozess: Staatsanwaltschaft legt Beschwerde ein

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Dass er freikam, stößt auf massiven Widerstand der Staatsanwaltschaft, weil sie fürchtet, dass sich der Betrüger mit verstecktem Vermögen in die Türkei absetzen könnte, wo er geboren ist und familiäre Kontakte habe. Sie hatte schon vor dem Urteil geahnt, dass die Kammer den Unternehmer nach Verkündung des Strafmaßes vorläufig aus der U-Haft lässt, und eine lange Haftbeschwerde vorbereitet, die Staatsanwältin Sonja Kotalla unmittelbar nach Verkündung des Urteils mit straffer Stimme vortrug.

Die Kammer blieb am Freitag aber bei ihrer Entscheidung. „Ich appelliere an Sie, dass Sie das Vertrauen, das wir in Sie setzen, nicht missbrauchen“, sagte Rehaag dem geständigen, reuigen und zuletzt auch aktiv an der Schadensbegleichung beteiligten Angeklagten.

Freigelassener Angeklagter muss sich dreimal pro Woche bei der Polizei melden

Das Gericht macht ihm aber Auflagen: Er muss in Essen einen festen Wohnsitz nehmen, sich dreimal pro Woche bei einer Polizeiwache melden, darf Deutschland nicht verlassen und muss Personalausweis und Reisepass abgeben.

Der Angeklagten versicherte: „Ich werde die Auflagen erfüllen.“ Und: Ich werde jeden Cent zurückzahlen.“ Damit meinte er den noch nicht beglichenen Schaden – gut sieben Millionen Euro.

Fast eine Million Bürgertests abgerechnet, die gar nicht durchgeführt wurden

Das Gericht folgte in seinem Urteil weitgehend den Feststellungen, die Staatsanwältin Sonja Kotalla und Staatsanwalt Jörg Maleck in ihrem Plädoyer am Donnerstag gemacht hatten. Sie sehen es als erwiesen an, dass der Angeklagte durch „wissentliche und willentliche“ Betrügereien einen Schaden von mehr als 24 Millionen Euro angerichtet hat, indem er im März und April 2021 fast eine Million „Bürgertests“ abgerechnet habe, die gar nicht durchgeführt worden seien.

Die Staatsanwaltschaft wirft dem Medican-Verantwortlichen Betrug mit Corona-Tests vor.
Die Staatsanwaltschaft wirft dem Medican-Verantwortlichen Betrug mit Corona-Tests vor. © FUNKE Foto Services | MATTHIAS GRABEN

Außerdem habe er die Tests in seinen mehr als 80 Teststationen in Deutschland so abgerechnet, als sei ein Arzt dabei gewesen, was nicht der Fall gewesen sei. Dadurch habe er je Test 15 statt 12 Euro von der Kassenärztlichen Vereinigung kassiert. Auch Sachkosten habe er überhöht abgerechnet.

„Zwangslage“ ausgenutzt“

Verschärfend kreideten die Ankläger dem Unternehmer an, dass er die „Zwangslage“ der Pandemie „skrupellos ausgenutzt“ habe, „um sich zu bereichern“. Er habe „eine hohe kriminelle Energie“ gezeigt.

Als der Betrug Ende Mai 2021 nach Recherchen der Presse aufgeflogen sei, habe er „alle erdenklichen Verschleierungsmaßnahmen“ eingeleitet, „um seine Taten zu vertuschen“, und Tatbeute beiseite geschafft – mit Umdatierungen von Lieferungen, Verschiebungen von Millionenbeträgen, einer Barabhebung (300.000 Euro) sowie Scheinrechnungen.

Die Staatsanwaltschaft räumte aber auch ein, dass „geringe Kontrollen“ den Betrug erleichtert hätten.

Erst nach 23 Prozesstagen, im Mai, hatte der Angeklagte ein Geständnis abgelegt, zuvor hatte er alle Vorwürfe bestritten.

Haftbeschwerde beim Oberlandesgericht möglich

Die Staatsanwaltschaft kann gegen die Freilassung noch Beschwerde beim Oberlandesgericht Hamm einlegen.

Die Firma Medican bzw. ihre Nachfolgefirma, deren Gesellschafter der Angeklagte ist, sieht sich noch Forderungen in Höhe von rund 36 Millionen Euro von der Kassenärztlichen Vereinigung ausgesetzt. Die Auszahlungen wurden vom Bundesamt für soziale Sicherung getragen.

Der Angeklagte ist eigentlich ein erfolgreicher Immobilienunternehmer.

Er habe sich „schuldig gefühlt“, nachdem er gemerkt habe, wie sehr seine Familie und Mitarbeiter unter seinem Verhalten leiden würden, wie er am Donnerstag vor der 6. Wirtschaftsstrafkammer sagte. Für sein spätes Geständnis habe er seinen „ganzen Mut in der Zelle zusammengenommen“.

Für sein „letztes Wort“ stand er extra auf. Die sieben Wochen der Tatzeit seien „wie eine schwarze Wolke über meinem ganzen Leben“. Alles sei „im Chaos versunken“. Die Höchststrafe für ihn sei nun aber nicht die jahrelange Haftstrafe, sondern der Verlust seiner Reputation.

Verteidiger: „Ich verstehe nicht, warum er als Staatsfeind behandelt wird“

Er betonte aber, dass er mit dem Aufbau der vielen Teststellen damals nicht von Anfang die Absicht zu betrügen gehabt habe. Es sei halt „alles den Bach runtergegangen“. In seinem Geständnis im Mai hatte er erklärt, dass er möglichst viele liquide Mittel zur Verfügung haben wollte, nachdem ihm die „enormen Kosten“ für die Expansion seiner Corona-Test-Firma (Busse als mobile Teststellen etc.) „über den Kopf gewachsen“ seien.

Verteidiger Jan-Henrik Heinz forderte sechs Jahre Haft – die Untergrenze eines zuvor ausgehandelten Deals. Zudem soll sein Mandant nach dem Urteil vorläufig freikommen. „Ich verstehe nicht, warum er als Staatsfeind behandelt wird“. Das Verhalten der Staatsanwaltschaft sei „nicht verhältnismäßig“. Der Angeklagte versicherte, eine vorübergehende Freilassung nicht zur Flucht in die Türkei zu nutzen.

Verwandter des Angeklagten ist in der Türkei auf der Flucht

Knapp 13 Mio Euro hatte die Staatsanwaltschaft beim Angeklagten nach der Festnahme beschlagnahmt, rund 3,5 weitere Millionen aus dem Firmenvermögen werden zur weiteren Schadensbegleichung verwendet.

Ermittelt wird auch weiterhin gegen einen Verwandten des Angeklagten. Er ist laut Staatsanwaltschaft in der Türkei auf der Flucht. Mit 2,6 Mio Euro aus der Tatbeute soll er sich abgesetzt haben. Übrig seien nur noch 715.000 Euro. Dieses Geld hat er am Mittwoch nach Vermittlung durch die Verteidigung bzw. den Angeklagten auf ein Konto der Bochumer Gerichtskasse überwiesen. Auch dieses Geld wird zur Schadensbegleichung genutzt.