Bochum. Das Jugendamt Bochum hat Dina Biernath mehr als drei Jahre die Kinder weggenommen. Ein Gericht entschied nun: Eine Inobhutnahme war rechtswidrig.

Es sind mehr als drei Jahre, die Dina Biernath und ihren Kindern niemand mehr zurückgeben kann. Im März 2016 wurde ihr der damals siebenjährige Sohn weggenommen, drei Monate später der jüngere Sohn (4). Die Kinder sind seit Ende 2019 wieder bei ihr. Nun hat das Oberverwaltungsgericht Münster entschieden: Die Inobhutnahme des jüngeren Sohns war rechtswidrig, ein zweites Urteil steht noch aus. Für die Stadt Bochum stellte sich die Situation damals anders dar. Die Stellungnahme finden Sie in der Infobox.

„Eine ganze Familie wurde zerstört und alles kaputtgemacht“, schildert Dina Biernath (39), die mit ihren beiden Kindern in Bochum gelebt hat. Alles begann vor mehr als fünf Jahren. Ihr älterer Sohn ist nachweislich hochbegabt und Asperger-Autist. Bereits mit vier Jahren besucht er die zweite Klasse, hat allerdings immer wieder Probleme in der Schule. Seine Mutter wendet sich an das Jugendamt der Stadt Bochum, das zur Hilfe die Unterbringung in einem Heim für einige Tage vorschlägt. Dina Biernath willigt ein. „Als ich ihn an Karfreitag abholen wollte, sagte man mir, dass sie ihn in Obhut nehmen.“

Jugendamt Bochum nimmt Kinder in Obhut – Kindeswohlgefährdung lag nicht vor

Die zweifache Mutter wehrt sich juristisch – ohne Erfolg. Drei Monate später erscheint der Sohn nach der Schule bei ihr. „Er stand weinend im Flur. Ich habe unter anderem direkt die Polizei angerufen“, erklärt Dina Biernath. Trotzdem: Niemand habe den älteren Sohn bei ihr abgeholt.

Dina Biernath in ihrer Wohnung in Herne mit ihrem älteren Sohn (12). Ihr wurde dreieinhalb Jahre lang das Sorgerecht für ihre beiden Kinder entzogen, nun leben sie wieder bei ihr.
Dina Biernath in ihrer Wohnung in Herne mit ihrem älteren Sohn (12). Ihr wurde dreieinhalb Jahre lang das Sorgerecht für ihre beiden Kinder entzogen, nun leben sie wieder bei ihr. © FUNKE Foto Services | Alexa Kuszlik

Im Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Münster heißt es dazu, dass Dina Biernath sich, nachdem sie den jüngeren Sohn von der Kita abgeholt hat, zu einem Rechtsanwalt begab, weil ihr Sohn dort seine Erlebnisse aus dem Heim schildern sollte. Das Jugendamt habe Biernath zu einer nicht näher dokumentierten Zeit zwischen 14 und 17 Uhr nicht zu Hause angetroffen. Die Mutter habe am späten Abend eine E-Mail geschickt, in der sie ankündigte, die Kinder am nächsten Morgen in Schule und Kindertagesstätte zu bringen.

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Dort werden beide Kinder in Obhut genommen. Der Grund: Dina Biernath sei angeblich suizidgefährdet, so das Jugendamt. Für den jüngeren Sohn habe zudem eine Gefahr bestanden, weil dieser erhebliche gesundheitliche Probleme habe, die einer medikamentösen Behandlung und regelmäßigen Kontrollen bedürfen. Das Amtsgericht Bochum entzieht der zweifachen Mutter 2016 das Sorgerecht, kurz darauf verliert sie auch das Umgangsrecht.

Dina Biernath sieht Kinder nach dreieinhalb Jahren wieder

Sie beantragt 2017 beides zurück – und hat zweieinhalb Jahre später Erfolg: „Das Gericht ist (…) davon überzeugt, dass eine konkrete Kindeswohlgefährdung (…) zu keiner Zeit vor lag“, erklärt 2019 das Amtsgericht in Celle, das für den jüngeren Sohn zuständig ist. Kurz darauf erhält Dina Biernath auch das Sorgerecht für den älteren Sohn zurück.

Dina Biernath will die Stadt Bochum auf Schmerzensgeld verklagen. Die Inobhutnahme ihres jüngeren Sohnes war nachweislich rechtswidrig. Ein weiteres Verfahren läuft derzeit beim Oberlandesgericht Münster – da geht es darum, ob das Jugendamt ihren älteren Sohn wegnehmen durfte.
Dina Biernath will die Stadt Bochum auf Schmerzensgeld verklagen. Die Inobhutnahme ihres jüngeren Sohnes war nachweislich rechtswidrig. Ein weiteres Verfahren läuft derzeit beim Oberlandesgericht Münster – da geht es darum, ob das Jugendamt ihren älteren Sohn wegnehmen durfte. © FUNKE Foto Services | Alexa Kuszlik

Nach dreieinhalb Jahren sieht sie ihre Kinder wieder. Nun – weitere zwei Jahre später – steht auch fest: Die Inobhutnahme des jüngeren Sohnes 2016 war rechtswidrig, anders als das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen (VG) 2018 in erster Instanz entschieden hat. Das belegt der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Münster vom 29. Oktober. Auch eine Suizidgefahr lag demnach nicht vor. Das OVG entscheidet nun, ob die Inobhutnahme des älteren Sohnes ebenfalls rechtswidrig war. „Wir sind da mitten im Berufungsverfahren“, erklärt Dina Biernath.

„Ich habe die komplette Kleinkindzeit meines Jüngsten verpasst“

Das sagt die Stadt Bochum zur rechtswidrigen Inobhutnahme

Der jüngere Sohn von Dina Biernath wurde vom Jugendamt der Stadt Bochum in Obhut genommen – zu unrecht. Doch wie äußert sich die Stadt dazu? „Bei einer Inobhutnahme muss das Jugendamt kurzfristig eine Gefährdungseinschätzung treffen. Im Vordergrund steht das Kindeswohl. Zum damaligen Zeitpunkt hat sich aus Sicht des Jugendamtes ein entsprechender Handlungsbedarf ergeben. Eine konkrete Gefahr für das Kindeswohl lag nach Einschätzung des Jugendamtes vor“, erklärt Sprecher Thomas Sprenger.

Derzeit läuft am OVG Münster ein weiteres Verfahren bezüglich der Inobhutnahme des älteren Sohnes, ebenfalls 2016 „Dieses Verfahren (…) ist noch nicht abgeschlossen. Die Stadt Bochum nimmt grundsätzlich keine Stellung zu noch laufenden Gerichtsverfahren“, heißt es dazu von der Stadt.

Dina Biernath wohnt heute mit ihren Söhnen in Herne, hat eine Schule für die beiden gefunden. Der Ältere ist in der neunten Klasse eines Gymnasiums und zwölf Jahre alt, der Jüngere besucht mit seinen neun Jahren die Grundschule. Die 39-Jährige, die eigentlich Beamtin bei der Polizei Bochum war, arbeitet mittlerweile bei einer Hausverwaltung. Die vergangene Zeit hat Spuren hinterlassen. „Auch wenn man tough wirkt und es mir nicht ansieht“, sagt sie.

„Ich habe die komplette Kleinkindzeit meines Jüngsten verpasst, mir fehlen dreieinhalb Jahre“, macht die zweifache Mutter deutlich. Auch Fotos gebe es aus dieser Zeit nicht. Der Neunjährige erinnert sich nicht an die ersten Jahre seines Lebens bei ihr. „Das ist schwer auszuhalten“, verdeutlicht sie. Auch wichtige Schritte im Leben ihres großen Sohnes hat sie verpasst.

Aufholen können wird die Familie das nie ganz. „Ich möchte zumindest Entschädigung, weil mir die Zeit niemand zurückgeben kann“, sagt Dina Biernath. Sie will die Stadt Bochum auf Schmerzensgeld verklagen.