Bochum. Am Schauspielhaus Bochum kommt „Peer Gynt“ zurück auf die Bühne. Die Titelrolle spielt Anna Drexler – eine Schauspielerin von eigener Klasse.

„Peer Gynt“ tobt und schreit, zertrümmert Moral- und Traditionslinien - über Jahrzehnte schien es, als habe Henrik Ibsen in seinem berühmten Theaterstück die Titelrolle des Gefühlsberserkers einer typisch agil-aggressiven Männergestalt auf den Leib geschrieben. In der aktuellen Bochumer Peer Gynt-Inszenierung, die am 1. Oktober Wiederaufnahme im Schauspielhaus Bochum feiert, ist der Mann eine Frau: Anna Drexler spielt den Peer mit wilder Kraft und energischer Ausdauer. Eine starke Rollenaneignung – wieder einmal, muss man sagen, denn dafür ist Anna Drexler bekannt, und dafür wird geschätzt.

Anna Drexler ist als Bühnen- und Fernsehschauspielerin zu sehen

Übrigens nicht nur auf dem Theater. 2020 reüssierte die 31-Jährige in der TV-Produktion „Eine Almhütte für Zwei“ – dem simplen Titel zum Trotz eine sehenswerte, vorzüglich gespielte und mit großer Zuneigung zu den Figuren erzählte Komödie. Hier war Drexler als „Beate“ zu sehen, einer behinderten jungen Frau.

In Herbert Fritschs umstrittener Marquis-de-Sade-Inszenierung „Die Philosophie im Boudoir“ stand Anna Drexler (re.) mit Jele Brückner auf der Bühne.
In Herbert Fritschs umstrittener Marquis-de-Sade-Inszenierung „Die Philosophie im Boudoir“ stand Anna Drexler (re.) mit Jele Brückner auf der Bühne. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

„Peer Gynt“ wird am Schauspielhaus Bochum kräftig durchgerüttelt

Anna Drexler kam 2018 mit Intendant Johan Simons nach Bochum. Ihren ersten Auftritt hatte sie in dessen Auftakt-Inszenierung „Die Jüdin von Toledo“, wo sie mit Präsenz und Ausstrahlung ein erstes Ausrufezeichen setzte. Wie nun in Peer Gynt. Der Abend wird getragen von der Schauspielerin, die in der Titelrolle voll aufgeht. Das Spiel um den Sinnsucher Peer zwischen Troll-Land und afrikanischer Wüste hält über zwei Stunden die Spannung hoch, setzt zeit- und bühnenkritische Akzente und rüttelt den Klassiker auch musikalisch durch.

Gespielt wird auf einer schräg gestellten Bühne; das Setting ist sinnbildlich für das, was Regisseur Dušan David Pařízek beabsichtigt. Es geht ihm um das Postulat der Unruhe, des Getrieben-Seins, des Niemals-sicher-Wissen-Könnens. Zumal in der ersten Hälfte der Aufführung ist die fast schon manische Agilität der Figur des jungen Peer mit Händen zu greifen. Fasziniert sieht man zu, wie Anna Drexler dessen Ringen mit sich selbst und seiner Umwelt in immer wieder neuen, auch schrillen Nuancen zelebriert.

In Interviews hat Anna Drexler betont, dass es ihr läge, „ein gutes Gespür für die Figuren und ihren Kosmos zu bekommen und herauszufinden, was zwischen den Zeilen stattfinden kann“. Und dass sie sich ihre Rollen gern so anverwandele, dass man die Trennung zwischen Schauspielerin und Figur kaum wahrnehmen kann. Das ist heutzutage, wo es oft um „Überschreibungen“ und die „Überwindung“ von Rollentraditionen auf der Bühne geht, eine selten gewordene Kunst.

Emanzipation greift in Bochum auf der Bühne um sich

Dabei ist die weibliche Besetzung einer männlichen Rolle in Pařízeks Inszenierung durchaus programmatisch, denn der Regisseur misstraut dem 1867 geschriebenen Dramas, in dem Henrik Ibsen seinen Peer durch Zeiten und Welten schickt, um sich selbst, seinen Kern zu finden, dabei aber als Ego-Shooter auch vor Rassismus und Ausbeutung der einst so genannten „Dritten Welt“ nicht zurückschreckt. Diese überkommene Haltung unterläuft Pařízek radikal, die im Stück auch angelegten Märchen-, ja: Fantasy-Aspekte radiert er aus.

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Überraschend endet die Aufführung mit einem Spotlight auf eine weitere starke Darstellerin: Anne Rietmeijer (27), soeben als „Nachwuchsschauspielerin des Jahres“ ausgezeichnet. Sie steigt aus ihrer Rolle als Peers Geliebte Solveig aus, beklagt, dass sie als auf den Mann wartendes Weibchen vier Akte lang nichts zu sagen gehabt habe, und von Ibsen nur dazu erfunden worden sei, den armen Peer zu erlösen. Damit sei nun Schluss: „Beim nächsten Mal werde ich nicht hier sein“, sagt „Solveig“, „ich möchte das nicht mehr sein.“

Die Emanzipation bricht sich auf der Bühne Bahn.