Bochum. Premiere im Internet: In Bochum wird der Bühnenklassiker „Peer Gynt“ auf seine heutige Relevanz abgeklopft. Mit überraschendem Ergebnis.

Das Schauspielhaus Bochum zeigt Henrik Ibsens „Peer Gynt“ als Live-Stream im Internet – ein Debüt der besonderen Art. Die Aufführung am Samstag war die erste Premiere in der über 100-jährigen Geschichte des Bochumer Theaters, die nicht vor Publikum über die Bühne ging.

Schauspielhaus Bochum bringt Ibsen-Klassiker auf die Bühne

Das Stück, eingerichtet von Dušan David Pařízek, sollte schon im Herbst herauskommen, die Pandemie hatte das immer wieder verhindert. Das entwöhnte Publikum musste sich also lange in Geduld üben. Hat sich das Warten gelohnt?

Auch interessant

Top-Leistung von Anna Drexler in der Titelrolle

Die Antwort ist: auf jeden Fall! Denn das Spiel um den Sinnsucher Peer zwischen Troll-Land und afrikanischer Wüste hält über zwei Stunden die Spannung hoch, setzt zeit- und bühnenkritische Akzente und rüttelt den Klassiker musikalisch durch. Auch lebt der Abend von einer Top-Leistung Anna Drexlers, die in der Titelrolle eine Schau ist.

Hier den WAZ Corona Newsletter abonnieren

+++ Aktuelle Fallzahlen aus Bochum, neue Verordnungen, neue Erkenntnisse der Impfstoff-Forschung: Das Corona-Update hält Sie auf dem Laufenden. +++

Gespielt wird auf einer abstrakten, schräg gestellten Bühne, die durch die für die Internet-Übertragung gewählte Kameraperspektive noch zugespitzt wird; manchmal wirkt das, als spielte das Ensemble direkt auf der abschüssigen Eiger-Nordwand. Das Setting ist sinnbildlich für das, was Regisseur Pařízek beabsichtigt. Es geht ihm um das Postulat der Unruhe, des Getrieben-Seins, des Niemals-sicher-Wissen-Könnens. Zumal in der ersten Hälfte der Aufführung ist die fast schon manische Agilität der Figur des jungen Peer mit Händen zu greifen. Fasziniert sieht man zu, wie Anna Drexler dessen Ringen mit sich selbst und seiner Umwelt in immer wieder neuen Nuancen zelebriert.

Anne Rietmeijer spielt die „Solveig“ und steigt am Ende aus ihrer Rolle aus.
Anne Rietmeijer spielt die „Solveig“ und steigt am Ende aus ihrer Rolle aus. © Schauspielhaus Bochum | Matthias Horn

Ob Pařízeks allgemeiner Ansatz die Interpretationsebenen erweitert oder verengt, lässt sich dagegen nicht so genau sagen. Denn die Inszenierung ist einerseits sehr fragmentiert, der komplexe märchenhafte Rahmen von „Peer Gynt“ wird zugunsten einer kontrollierten Reflexion aufgegeben. Dazu kommt, dass der Regisseur an einer weiteren Ausschabung des Klassikers interessiert ist.

Regisseur erkennt im Stück ein strukturelles Problem

Denn „Peer Gynt“, entstanden vor 150 Jahren, ist nicht nur das Szenario einer manischen Selbstsuche, sondern auch ein Kind seiner (= Ibsens) Zeit. Kolonialismus, Ausbeutung, kapitalistische Wirtschaftsinteressen, Egozentrik und patriarchalische Strukturen des 19. Jahrhunderts sind werkimmanent. Heutzutage erscheinen sie als strukturelles Problem.

Entsprechend baut Pařízek aktuelle kolonialkritische Akzente – die farbige Darstellerin Mercy Dorcas Otieno hat da in der „Anitra“-Szene einen starken Aufritt – ebenso ein wie einen neuen Schluss. Denn am Ende verweigert die treue Solveig ihren von Ibsen vorgesehenen Zweck als wartendes Liebchen.

Schauspielhaus Bochum stellt sich aktuellem Diskurs

Stattdessen steigt Darstellerin Anne Rietmeijer aus ihrer Rolle aus, beklagt, dass sie vier Akte lang nichts zu sagen gehabt habe, und nur dazu erfunden worden sei, Peer zu erlösen. Damit sei nun Schluss: „Beim nächsten Mal werde ich nicht hier sein“, sagt „Solveig“, „ich möchte das nicht mehr sein.“

Die Selbstfindung der Rolle verselbstständigt sich. Die Reflexion überlagert das Spiel; Illusionen haben keine Chance mehr. Das Sprechtheater insgesamt wandelt sich. Es sind dies aktuelle Tendenzen im Bühnenbetrieb, die man vielerorts wahrnehmen kann. Das Schauspielhaus Bochum ist mit diesem „Peer Gynt“ vorn an der Diskurs-Front mit dabei.

>>> Weitere Livestream-Aufführung am 15. Mai, 19.30 Uhr. Karten: www.schauspielhausbochum.de