Bochum. Mit „Noise“ gab es die letzte Premiere der Spielzeit am Schauspielhaus Bochum: Ein Abenteuer aus Lärm und Krach, das den Kopf zum Bersten bringt.

Eine Kaskade aus Lärm ergießt sich in der letzten Aufführung der Spielzeit über die Corona bedingt sehr wenigen Besucher in den Kammerspielen Bochum. Manuela Infantes Performance „Noise. Das Rauschen der Menge“ zerrt die rigiden politischen Zustände in Chile ans Licht – und an den Nerven der Zuschauer.

„Noise“ erinnert im Schauspielhaus an den Volksaufstand in Chile

Die chilenische Autorin und Theatermacherin Infante hat den Volksaufstand in der Hauptstadt Santiago 2019/20 hautnah miterlebt. Die Regierung ging mit äußerster Gewalt gegen Demonstranten vor, die soziale Reformen forderten. Stadt und Barrikaden brannten, das Denkmal von General Baquedano wurde gestürzt.

Pause bis September

Mit den Aufführungen von „Noise“ endete am Wochenende die Spielzeit 2020/21. Die dritte Saison unter der Ägide von Intendant Johan Simons war durch die Pandemie stark beeinträchtigt, lange Zeit musste das Theater geschlossen bleiben.

Nun ruhen die Hoffnungen auf der kommenden Spielzeit 2021/22. Deren Auftaktpremiere ist für Freitag, 10. September, terminiert. Mit „Das neue Leben. Where Do We Go From Here“ (Regie: Christopher Rüping) ist ein szenisches Abenteuer frei nach Dante Alighieri, Meat Loaf und Britney Spears versprochen.

Infante greift in der Auftragsproduktion des Schauspielhauses Bochum diese Geschehnisse auf – wie sie dies tut, dürfte einzigartig sein. Sie erzählt keine Polit-Story nach, verteilt keine ideologischen Ratschläge, sondern entreißt die brutalen Geschehnisse in einer grellen, enervierenden Klang-Text-Collage dem Vergessen. „Noise“, Geräusch, Krach, wird zum Verstärker eines Lärms, der tiefer wirkt als oberflächlich. Es geht um den Sound der Stimmen der Vielen, die sich lautstark gegen ein als inhuman empfundenes System zur Wehr setzen.

Massive Wall of Sound erschüttert den Theaterraum

Was in Chile geschah und erlitten wurde, wird dem Publikum in Form einer fragmentierten, sich ständig überlappenden, mäandernden Wall of Sound präsentiert. Das englische „noise“ steht für „Geräusch“, aber auch für Lärm, Rumoren oder Rauschen. Es ist eine Überlagerung von Schwingungen unterschiedlicher Lautstärke, ein Geräusch, das sich aus vielen Geräuschen zusammensetzt: das Rufen von Parolen oder der Angstschrei von Menschen, das Sirren von Polizei-Drohnen, das Knallen der Gummigeschosse. Vom „rumour“, dem Geräusch, ist es nur ein kleiner Schritt hin zum Rumoren – und damit zum Aufstand, zu Hass und Gewalt.

Ausgeklügelte Lichteffekte untermalen die Sound-Collage und illustrieren das Spiel der Solo-Darstellerin Gina Haller in den Bochumer Kammerspielen.
Ausgeklügelte Lichteffekte untermalen die Sound-Collage und illustrieren das Spiel der Solo-Darstellerin Gina Haller in den Bochumer Kammerspielen. © schauspielhaus bochum | Nicole Wytyczak

Das Geschehen spielt sich im Kopf der Zuschauer ab

Doch spult sich das alles nur im Kopf und in den Ohren der Zuschauer/Zuhörer ab, es gibt keine Videos, keine szenischen Verweise; vielmehr ist die 90-minütige Aufführung dazu geeignet, alles zu verwirren und den Kopf zum Bersten zu bringen. Das Stück ist absolut eine Herausforderung, formal und inhaltlich. Augenblicke der Stille, mithin des Innehaltens, werden nicht gewährt – außer am poetischen Schluss, in dessen Conclusio ein summender Moskito eine ungewöhnliche Rolle spielt.

Wandlungsfähigkeit von Gina Haller ist beeindruckend

Die für „Noise“ gefundene Ausdrucksart ist eigentlich nicht „spielbar“ und wird doch von Gina Haller gespielt – und wie! Nicht nur, dass sie den zersplitterten Textblock souverän meistert, auch ist ihre Wandlungsfähigkeit bemerkenswert. Mal ist sie ein kleines Kind, mal ein Schwyzerdütsch sprechender Beobachter, mal eine Nachrichtensprecherin, mal eine leidende Mutter in der Menge der Protestierenden in Santiago, mal ist sie ein Hund, mal ein Hubschrauber, mal der Krach selbst.

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Man hat Gina Haller in Bochum schon in vielen ausdrucksvollen Rollen gesehen, hier erreicht ihre Darstellungs- und Verfremdungskunst eine neue Höhe. Fast scheint es, als habe in der Faszination von Hallers Spiels die dezidiert humane Aussage von Manuela Infante ihre perfekte, einzig mögliche Personifizierung gefunden.

„Noise“ ab Herbst wieder im Spielplan des Schauspielhauses Bochum

„Noise“ wird ab September wieder in Bochum auf dem Spielplan stehen. Man sollte sich die Aufführungstermine vormerken. Aber man sollte auch gewappnet sein. Hier wird Theater geboten, das über Grenzen geht. Und man sollte keine Angst vor Lärm haben.