Bochum. Hinter einer markanten, 226 Meter langen Fasse an der Alleestraße ist Bochums Industriegeschichte noch lebendig. Was in dem Gebäude lagert:
Stadtauswärts Richtung Essen ist Bochums Strukturwandel mit einem Blick sichtbar. Am Westpark stehen oberhalb der Alleestraße moderne Dienstleistungsgebäude, davor hat im vergangenen Jahr ein GHotel eröffnet. Sie alle gehören zu den neuen Aushängeschildern der Stadt. Direkt daneben flankiert eine schier nicht enden wollende Hallenwand den schnurgeraden Straßenverlauf. Sie steht für Bochums Industriegeschichte – buchstäblich, denn sie ist wie auch das Dach der Halle denkmalgeschützt.
Sie ist also alt – 1935/1936 wurde die Mewes-Halle der Bochumer Verein AG – benannt nach dem Kölner Architekten Emil Mewes – fertiggestellt. Und sie ist in Teilen denkmalgeschützt. Museal ist deshalb aber noch langen nicht. Noch immer wird der architektonisch ambitionierte Funktionsbau genutzt. Denn noch wird in einer der einst wichtigsten Stahl-Städte im Revier Stahl verarbeitet, wenn auch nicht mehr hergestellt. Thyssenkrupp walzt in Höntrop an der Essener Straße, nur einen Katzensprung von der Alleestraße entfernt, aus bis zu 30 Tonnen schweren Brammen millimeterdünne Bleche. Beinahe alles, was benötigt wird, um Maschinen, Öfen und Verladung des Stahls am Laufen zu halten, um reparieren und austauschen zu können, wird hier an der Alleestraße hinter der 226 Meter langen Hallenwand in einem Materiallager aufbewahrt, das mit nur einem Wort treffend beschrieben werden kann: riesig.
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Der Chef ist eine Chefin
Es gibt zwei Überraschungen beim Ortsbesuch an diesem Vormittag. Die erste: Der Chef des Lagers, in dem 42.000 unterschiedliche Artikel und eine sechsstellige Stückzahl liegen, ist eine Chefin: Silke Nüst (54) ist „Teamleiterin Materialversorgung“. Seit 1984 arbeitet die Bochumerin hier, seit Sommer 2019 hat sie das Sagen. Die zweite Überraschung: Hinter der schlichten Eingangstür, die Nüst öffnet, wird der Blick frei auf 23.000 Quadratmeter Lagerfläche. Regale, so weit das Auge reicht, und Teile, die jedem technikbegeisterten Besucher ein Glänzen in die Augen zaubern würde. Durch Rolltore werden hier die Waren hinein- und hinausbefördert. Und oft werfen Passanten neugierige Blicke herüber, wenn eines der Tore mal für kurze Zeit geöffnet ist.
Die auf den ersten Blick spektakulärsten Teile sind im Bodenlager zu sehen. Dort liegen und stehen sie auf dem dicken Beton, der seit dem Bau der Halle in den 1930er Jahren schon viel Schweres getragen und manche Erschütterung aushalten musste. Da liegt ein 1,8 Tonnen schwerer Einfachhaken, wie das Teileetikett verrät. Da stehen mannshohe Kabeltrommeln und ein leuchtend gelb gestrichener Haspeldorn, der imposante 20 Tonnen wiegt. „Das schwerste Teil, das wir hier hatten, erinnert sich Silke Nüst, „wog 130 Tonnen.“
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Imposanter Blick vom Kranweg hinunter in Halle
Die großen Teile werden u. a. mit dem stärksten Kran in der Halle bewegt. Der stammt zwar aus den 1930er Jahren und sieht – wie überhaupt die ganze Halle – schon etwas abgewetzt aus – Welten liegen zwischen diesem Mega-Lagerplatz und dem nicht minder imposanten, modernen Warenverteilzentren von Opel in Langendreer und dem Megapaketzentrum von DHL in Laer. Aber beides, Halle wie auch der Kran, funktionieren immer noch. Momentan müssen die Kranführer – da der Funk des betagten Lastenträgers defekt ist – allerdings wieder hoch nach oben in die Kranführerkabine steigen, an deren Wand übermütige Lageristen hier nicht zitierfähige Kraftausdrücke gekritzelt haben.
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Und, da wir schon mal da sind, können wir auch einen Blick von oben riskieren. Auf dem Laufsteg entlang des Kranwegs – mehr als zehn Meter über dem Boden – wirkt die Halle noch imposanter und die Menge an Material noch größer. Winzig klein wirkt Staplerfahrer Wolfgang Ziermann, der mit seinem Fahrrad gerade von der Süd- zur Nordseite fährt. Weite Weg müssen die Lageristen hier gehen – oder eben besser fahren. „An einem Tag mit vielen An- und Auslieferungen wissen alle, was sie getan haben“, sagt Silke Nüst. Wer hier unterwegs ist, der fährt meistens etwas: Fahrrad, Hubwagen, Gabelstapler, Querwagen oder Kran.
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Zwischen Holzkisten und Kragarmregalen
Wieder zurück unten auf dem Boden, fallen einige große Holzkiste auf, die mit einem „Zoll“-Etikett versehen sind. „Das sind Lager, die müssen staubgeschützt aufbewahrt werden“, erklärt Silke Nüst. Die Spezialteile kommen aus den USA. Etwas weiter vorne stehen sogenannte Kragarmregale; pyramidenartig nach oben spitz zulaufende Regale, in den Rundmaterialien gestapelt werden. Schweres Zeug, das ohne Maschinenhilfe niemand von der Stelle bewegt.
Hier gibt es nichts, was es nicht gibt. Und von einigem jede Menge. Elektromotoren stapeln sich hier. Schwere Ketten hängen an riesigen Haken. Und wer weiß, was oben in den Hochregallagern schlummert. Einiges wird da schon länger liegen. Auf Vorrat sozusagen. Nicht auszudenken, drüben an der Essener Straße müssten sie Wochen oder Monate warten, bis ein defektes Maschinenteil ausgetauscht wird. So lang kann es mitunter dauern, bevor Bestellungen geliefert werden. Also haben Silke Nüst und ihr Team möglichst von allem immer etwas auf Lager.
Rund um die Uhr besetzt
Vieles, was hier liegt, ist gebraucht, repariert – Instand gesetzt – überholt. Aber vor allem einsatzfähig. Denn das ist neben der schier unerschöpflichen Vielfalt und Menge das zweite Plus des Lagers: Es ist immer geöffnet. „Wir haben 24/7“, sagt Silke Nüst im neudeutschen Arbeitsjargon. Will sagen: Rund um Uhr, sieben Tage die Woche. Wenn nachts um eins in Höntrop dringend in Kranhaken gebraucht wird, dann kann er in Nullkommanix aus Stahlhausen abgeholt werden.
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Die Teamleiterin nimmt sich Zeit für eine Streifzug durch das Materiallager, dessen Gesamtgewicht in einer siebenstelligen Tonnenzahl ausgedrückt werden müsste. Oft klingelt ihr Telefon. Aber sonst ist es eher ruhig an diesem Morgen in der 85 Jahre alten Industriehalle. Nichts ist zu hören von dem Verkehr nebenan auf der Alleestraße. Die dicken Wände schlucken alles. Und zu Verladen gibt es im Moment auch nichts. „Gestern hatten wir großen Betrieb“, sagt Silke Nüst. „Viele Lieferanten versuchen noch vor Weihnachten ihre Aufträge zu erledigen.“ Jetzt geht es ruhiger zu. Bis die nächsten Laster anrollen und die Crew von der Alleestraße wieder das macht, was sie seit Jahren macht: ausladen, einräumen, ausräumen, einladen. Der ewige Kreislauf der Logistik.
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