Bochum. Die Corona-Krise macht immer mehr Menschen seelisch krank. Die Fachkliniken in Bochum sind in Sorge. Und der Herbst steht erst noch bevor.

Die Corona-Krise macht immer mehr Menschen seelisch krank. Das beobachten die Chefärzte der beiden psychiatrischen Fachkliniken in Bochum. „Besorgniserregend“ sei die Entwicklung, warnt Prof. Georg Juckel, Ärztlicher Direktor des LWL-Universitätsklinikums. Zwei Drittel der monatlich 150 bis 200 neuen Patienten, die die Klinik aufsuchen, seien durch Corona in ihrer Psyche beeinträchtigt. „Das geht bis zur Androhung eines Suizids“, sagt Juckel im Gespräch mit der WAZ.

Es ist das Wort, dass Juckel und seine Psychiatrie-Kollegen an der Alexandrinenstraße in den Therapiesitzungen seit März am häufigsten hören: Ungewissheit. Sie nagt an den Menschen, die Angst um ihren Arbeitsplatz oder Betrieb haben. Die um ihre Familie bangen und Furcht haben, selbst zu erkranken. Die als Senioren, zum eigenen Schutz getrennt von ihren Liebsten, vor Einsamkeit zugrunde gehen. Die letztlich glauben, „alles hat sowieso keinen Sinn mehr“. Die in Angstzustände, Depressionen, Selbstmordgedanken verfallen.

Corona-Krise in Bochum: Auch gesunde Menschen fallen ins Loch

Georg Juckel macht dabei zwei Risikogruppen aus: zum einen Menschen, die bislang seelisch gesund waren und sich durch Corona unvermittelt am Abgrund wähnen; zum anderen Patienten, deren psychische Vorerkrankungen durch die Pandemie neu aufbrechen und sich massiv verstärken. „Dann heißt es oft: ,Mir ging es eigentlich wieder ganz gut. Und dann kam Corona.’“

Dr. Jürgen Höffler, Psychiatrie-Chefarzt am Martin-Luther-Krankenhaus in Wattenscheid, bestätigt die Darstellung Juckels. „Die Notfallbehandlung mit Angsterkrankungen, Depressionen und Psychosen hat in der Corona-Krise auch bei uns zugenommen – nicht sofort zu Beginn, aber sehr deutlich in den vergangenen Wochen“, so Höffler. Vor allem das Gefühl der Isolation werde durch den Umgang mit dem Virus befeuert. „Einsamkeit spielt eine zentrale Rolle.“

Krisen-Hotline soll Ansprechpartner nennen

Die Kliniken bemühen sich, dem erhöhten Beratungs- und Behandlungsbedarf gerecht zu werden. Das sei nicht einfach, sagt Georg Juckel. Die Ambulanzen sei ebenso ausgelastet wie der stationäre Bereich. Die Misere bei den niedergelassenen Therapeuten mit monatelangen Wartezeiten ist hinlänglich bekannt.

Corona-Krise zeigt extreme Folgen

„Bemerkenswert“ findet LWL-Klinikchef Georg Juckel die Extreme, die die Corona-Pandemie in weiten Teilen der Bevölkerung hervorrufe.

Auf der einen Seite nehme die Sorglosigkeit zu, etwa bei der Maskenpflicht und beim Abstandsgebot. „Verhängnisvoll, wenn man zum Beispiel auf die USA blickt“, warnt der Facharzt.

Auf der anderen Seite erzeuge Corona krankhafte, irrational erscheinende Zukunfts- und Existenzängste, die auch zuvor kerngesunde Menschen befallen.

Der Rat des Experten: „Die Corona-Regeln weiter befolgen, auf die Nächsten achten, sich das Leben möglichst nett gestalten – und die innere Zuversicht behalten, dass auch diese Krise irgendwann vorbei sein wird.“

Der Klinikchef ruft nach Unterstützung. Nachdem es lange nur um Schutzausrüstung, Tests und Infektionsraten ging, müssten endlich auch die psychischen Folgen der Pandemie in den Blickpunkt gerückt werden. Juckels Vorschlag: Unter dem Dach des Gesundheitsamtes könnte eine zentrale „Krisen-Hotline“ geschaltet werden. „Hier könnten Menschen, die wegen Corona nach Hilfe suchen, frühzeitig eine Anlaufstelle erhalten und je nach Schilderung an Ansprechpartner in den Fachkliniken und bei den Fachärzten verwiesen werden. Das wäre eine große Erleichterung.“

Stadt verweist auf bestehende Beratungsangebote

Die Stadt halte die Hotline „für nicht zwingend notwendig“, erklärt Sprecher Thomas Sprenger. Mit dem Sozialpsychiatrischen Dienst (Tel. 0234/910 32 39) gebe es bereits eine städtische Einrichtung, an die sich Hilfesuchende wenden könnten. „Hinzu kommen weitere Beratungsstellen wie die Krisen- und Suchthilfe sowie die freien Träger wie Awo oder Diakonie“, so Sprenger.

Spätestens nach den Sommerferien müsse es ein ausreichendes Angebot geben, bekräftigt Georg Juckel. Dann stehen der Herbst und Winter bevor – die dunklen Jahreszeiten, in denen psychische Leiden gehäuft auftreten. Komme es zur befürchteten zweiten Corona-Welle, werde es zu einem „Ansturm“ von Hilferufen kommen, dem Stadt und Medizin angemessen begegnen müssten.