Bochum. Wegen des Coronavirus sind im Bochumer Kinderheim Sankt Vinzenz Besuche verboten. Sorgen macht sich die Leiterin um Tagesgruppen-Kinder zuhause.

Sie verstehen nicht, warum die Kita geschlossen ist und alle Erwachsenen jetzt ihr Gesicht verstecken – doch dass sie wegen „Corona“ ihre Eltern nicht sehen dürfen, haben sie begriffen. Seit Wochen kommt kein Besuch mehr in die Jugendhilfeeinrichtung Sankt Vinzenz. Für die dort untergebrachten Heimkinder ist die neue Situation schwer.

„Wir können nicht raus, weil im Moment alle Kinder krank sind. Aber in den Hof dürfen wir“, murmelt ein kleiner Junge aus der Diagnosegruppe des Sankt Vinzenz. Auch die dreijährige Mia hat das Wort „Corona“ bereits aufgeschnappt. Die Verwirrung, warum sie nicht in den Kindergarten darf, bleibt.

Die dreijährige Mia hat das Wort „Corona“ in der St. Vinzenz Jugendhilfeeinrichtung Bochum schon mal aufgeschnappt. Sie weiß, wie wichtig Händewaschen ist – warum sie nicht in die Kita darf, ist ihr aber noch ein Rätsel.
Die dreijährige Mia hat das Wort „Corona“ in der St. Vinzenz Jugendhilfeeinrichtung Bochum schon mal aufgeschnappt. Sie weiß, wie wichtig Händewaschen ist – warum sie nicht in die Kita darf, ist ihr aber noch ein Rätsel. © Dietmar Wäsche

Bei einer aktuen Kindeswohlgefährdung in der Familie bringt das Jugendamt das Kind oder den Jugendlichen in die kleinen Wohngruppen des Sankt Vinzenz. Sozialpädagogen kümmern sich hier um das Kind und erforschen gleichzeitig die Probleme in den Familien.

Die Heimkinder in der Bochumer Einrichtung verlieren ihre Tagesstruktur

Keine Kita, keine Ausflüge, keine Therapien, kein Elternkontakt: „Die Kinder verlieren aktuell ihren geregelten Tagesablauf“, sagt Benjamin Holtmann, der als pädagogischer Mitarbeiter die Kinder bis sechs Jahre nun rund um die Uhr betreut. „Das ist hart – gerade für die Kinder, die hier strukturlos ankommen und sich gerade erst an die Tagesstruktur gewöhnt hatten“, so Holtmann.

Der sechsjährige Ray hat in den ersten Tagen seinen Kindergarten sehr vermisst . Benjamin Holtmann,  pädagogische Mitarbeiter in der Diagnosegruppe im St. Vinzenz Bochum, muss Ray und sechs andere Kinder nun rund um die Uhr betreuen.
Der sechsjährige Ray hat in den ersten Tagen seinen Kindergarten sehr vermisst . Benjamin Holtmann, pädagogische Mitarbeiter in der Diagnosegruppe im St. Vinzenz Bochum, muss Ray und sechs andere Kinder nun rund um die Uhr betreuen. © Dietmar Wäsche

„Wenn die Kinder mitbekommen, wie ein anderes mit seinen Eltern telefoniert, dann wollen sie das auch“, erklärt Holtmann, „aber sie können nicht begreifen, dass sie ihre Eltern nur hören und nicht sehen können.“

Dabei mache die Mimik 70 bis 90 Prozent der Kommunikation im Sankt Vinzenz aus, erklärt die Leiterin Petra Funke. Aus diesem Grund würden die Mitarbeiter im Kinderheim auch keine Masken bei der Arbeit tragen. „Das ist für die Kinder ihr temporäres Zuhause“, so Funke, „die Kinder brauchen die Mimik, sie stehen ohnehin emotional zwischen Baum und Borke. Der Mundschutz signalisiert: ,Ich will mich vor dir schützen.'“

Bochumer Kinderhilfeeinrichtung setzt Tagesgruppen aus

Auch die 18-jährige Shinda ist von dem Besuchsverbot betroffen. Die Abiturientin hat seit einem Jahr im „sozialpädagogischen betreuten Wohnen“ ihr eigenes kleines Appartement. Sie selbst darf aktuell weder Besuch empfangen, noch zu ihren Eltern fahren. „Meine kleinen Schwestern fragen jeden Tag: ,Wann kommst du mal wieder?'“, berichtet die Abiturientin, die sich nun selbstständig auf ihre Abiturprüfungen in Deutsch und Kunst vorbereitet. Für die Zeit des digitalen Unterrichts wurde von der Heimleitung eine höhere WLAN-Kapazität für die Jugendlichen eingerichtet.

Neben den verschiedenen Wohngruppen mit insgesamt 97 stationären Heimplätzen bietet Sankt Vinzenz auch zahlreiche Tagesgruppen an.
Dort werden Kinder tagsüber betreut und in Alltagssituationen unterstützt, leben aber weiterhin in ihren Familien. In der Coronazeit wird dieses Angebot ausgesetzt. Petra Funke macht das Sorgen: „Es ist ungeheuerlich ruhig. Wir haben das Gefühl, da ist ein Deckel auf den Familien.“

„Häusliche Gewalt und sexueller Missbrauch wird ja nicht weniger durch Corona.“

Die Kinder würden nicht in die Schulen und Kitas gehen und auch Ärzte nicht aufgesucht – die kritische Fälle normalerweise melden. „Wir machen uns große Sorgen um die Familien, von denen wir wissen, dass Kinder da bedroht sind“, sagt Funke, „zwei Monate Shutdown und keine Meldungen? Häusliche Gewalt und sexueller Missbrauch wird ja nicht weniger durch Corona."

Petra Funke, Leiterin der St. Vinzenz Jugendhilfeeinrichtung Bochum, macht sich große Sorgen um die Kinder, die ohne das Tagesgruppenangebot nur noch in den Familien sind.
Petra Funke, Leiterin der St. Vinzenz Jugendhilfeeinrichtung Bochum, macht sich große Sorgen um die Kinder, die ohne das Tagesgruppenangebot nur noch in den Familien sind. © Dietmar Wäsche

Ab dieser Woche sollen wieder erste Elternkontakte stattfinden – allerdings mit Distanzregeln, erklärt die Einrichtungsleiterin. „Es ist immer eine Abwägung zwischen dem Bedürfnis nach Geborgenheit und Emotionalität auf der einen Seite und dem Virus auf der anderen“, sagt Funke, „wir stellen das Kindeswohl an erste Stelle.“ Die psychologischen Folgen der Coronazeit auf die bis zu 250 betreuten und unterstützten Kinder der Einrichtung kann sie noch nicht abschätzen.

Weitere Entwicklungen zur Coronakrise in Bochum gibt es im Newsblog.

Eine Echtzeitkarte zu Corona-Infektionen in NRW finden Sie hier.